In der westlichen Welt sind wir schnell damit, bestimmte ethische Kriterien für Arbeitsbedingungen zu fordern. Die pakistanische Soziologin Farah Naz gibt aber zu bedenken: Bevor wir über Kinderarbeit und Heimarbeit urteilen, sollten wir die Lebens- und Arbeitsbedingungen der betroffenen Familien verstehen. Sie hat gemeinsam mit dem Soziologieprofessor Dieter Bögenhold ein Buch mit dem Titel „Unheard Voices“ veröffentlicht. Das Werk schlägt Brücken von der Arbeit der pakistanischen Fußballnäherinnen bis hin zu den großen globalen Ungleichheiten. Im Interview fassen die beiden Autor*innen die wesentlichen Thesen zusammen.
Ich nehme an, Sie haben mit der Arbeit an Ihrem Buch vor Ausbruch der Corona-Pandemie begonnen. Müssten Sie jetzt eigentlich neu mit dem Schreiben beginnen oder hat sich nichts verändert?
Bögenhold: Farah Naz hat sich in ihrer empirischen Arbeit mit der Arbeit der pakistanischen Fußballnäherinnen befasst, dahinter steht ein starker Fokus auf Heimarbeit. Heimarbeit steht bei uns in Verbindung mit traditionellen Formen der Arbeit, besonders in der Landwirtschaft. Im letzten Jahrhundert verlor sie wesentlich an Stellenwert. Nun haben wir in Europa und Nordamerika seit Ausbruch der Pandemie die Heimarbeit wieder stärker auf der Agenda, während sie in vielen Gegenden dieser Welt nie verschwunden ist. Das zeigt uns: Unsere Formen von Arbeit unterscheiden sich sehr stark und teilweise gibt es dennoch auch überraschende Parallelen.
Naz: Diejenigen, über die wir hier reden, leben in einer scheinbar ganz anderen Welt. Wir müssen uns die Kontexte vor Augen halten, in denen sie ihre Näh-Arbeit verrichten. Die Arbeit in den eigenen vier Wänden bedeutet zwar viele Herausforderungen, hat aber für die Familien auch wesentliche Vorteile. Sie bedeutet ihnen sehr viel. Die Pandemie hatte auf viele dieser Menschen aber schlimme Auswirkungen: Die Versorgungsketten sind gestört, viele haben auch keine Arbeit mehr. Die Zustände wurden also härter.
Wer sind die Unheard Voices, denen sie eine Stimme verleihen wollen?
Naz: Ich meine damit die Heimarbeiterinnen, die in Pakistan in großer Anzahl zuhause Fußbälle für die großen Sportartikelmarken herstellen. Sie sind Teil einer globalen Produktionskette. Diese Unternehmen stellen heute Menschenrechte, ethische Rahmenbedingungen und Corporate Social Responsibility in ihre Schaufenster, berücksichtigen dabei aber kaum die Perspektiven der Arbeiterinnen selbst. Ihre Stimmen fehlen in den Diskursen. Wir wollen aufzeigen, was diese Personen in ihrem Leben erreichen wollen, wovon sie träumen, was sie sich wünschen. Im Fokus stehen ihre Lebensgeschichten. Die meisten wünschen sich eine bessere Zukunft für ihre Kinder. Dafür brauchen sie ihre Arbeit, die ihnen sehr viel bedeutet. Dieser Aspekt ist in den Debatten meist nicht bzw. zu wenig berücksichtigt.
Warum fehlt das in dem akademischen Diskurs?
Bögenhold: Wenn wir in den akademischen Disziplinen über Wirtschaft und Gesellschaft sprechen, beziehen wir unsere Bewertungen immer auf die Gesellschaft, in der wir leben. Wir müssen aber lernen, die Welt als globale Gesellschaft zu denken. Der us-amerikanische Milliardär Warren Buffett sagte einmal, das Beste, was ihm je passiert ist, sei in den USA geboren worden zu sein. Der Ort der Geburt bestimmt nach wie vor, wie alt man wird: Während die durchschnittliche Lebenserwartung in der Sahara bei 40 Jahren liegt, werden Norweger*innen 80 Jahre und älter. In unserem Buch beschäftigen wir uns ausgehend von den Heimarbeiterinnen mit globalen Ungleichheiten und versuchen aufzuzeigen, dass wir alle im gleichen (Welt-)System leben, aber völlig unterschiedliche Bedingungen vorfinden. Das Leben in der Weltgesellschaft ist derzeit eine sehr unfaire Lotterie.
Naz: Dabei werden Glaubenssätze vom anderen Ende der Welt oft übergestülpt. Man will etwas im Interesse der anderen „verbessern“, ohne die Interessen zu kennen. Das ist zum Beispiel bei der Kinderarbeit der Fall. Wir müssen aber alle besser die echte Lebensrealität der Menschen kennen.
Wenn ich mich aber als Konsumentin nicht an den CSR-Guidelines der Unternehmen orientieren kann, welchen Beitrag kann ich dann leisten, um der Ungleichheit entgegen zu wirken?
Naz: Das Problem mit der Corporate Social Responsibility so mancher Unternehmen ist: Sie wollen CSR in ihren Schaufenstern, zahlen den Menschen aber keine fairen Löhne. Die Gewinne werden entlang der Produktions- und Vermarktungskette unfair verteilt. Das müssen sich die Menschen vor Augen halten: Zu viel Geld landet in zu wenigen (und den falschen) Taschen. Das Problem ist also auch ein Problem ökonomischer Natur und ein Problem der Verteilung von Wohlstand.
Die Unternehmen werden sich aber weigern, Gewinne zu ihrem eigenen Nachteil besser zu verteilen.
Bögenhold: Wir sehen heute, dass Konsumentscheidungen schon eine gewisse Macht haben und viele Menschen kaufen auch schon sehr bewusst. Am Ende ist das aber sicher nicht genug. Der Nobelpreisträger Joseph Stiglitz schrieb einmal: „Money is flowing uphill from the poor to the rich“. Um diesem verkehrten Naturgesetz entgegen zu wirken, brauche es einen neuen globalen sozialen Vertrag, so dass Geld und Wohlstand wie Wasser auch wieder „downhill“ fließen kann.
Naz: Dieser neue soziale Vertrag müsste unter Einbeziehung aller Perspektiven entstehen, in denen alle globalen Player, große wie kleine, ihre Interessen einbringen könnten. Insgesamt müssten wir alle mehr darüber wissen, was Menschen auf anderen Kontinenten und „am anderen Ende des Erdballs“ bewegt.
Bögenhold: Als Beispiel dafür, was passiert, wenn man mit den Akteur*innen nicht spricht, möchte ich den Kobra-Effekt einbringen. In Indien gab es zu einer Zeit zu viele Schlangen. Die Regierung lobte finanzielle Anreize für alle aus, die getöteten Schlangen zum Bezirksamt brachten. Die Maßnahme kostete viel Geld. Die Menschen begannen dann aber, Schlangen zu züchten und zu töten, um die Prämien zu erhalten. Irgendwann erkannte man die Strategie der Menschen und stoppte das Programm, worauf die vielen, bereits gezüchteten Schlangen dann wieder in die Wälder gebracht und ausgesetzt wurden. Schließlich gab es mehr Schlangen als vorher. Fazit: Man muss mit den Akteur*innen reden und ihre Perspektiven verstehen und nicht Pläne über deren Köpfe hinweg machen, so dass es dann zu „nicht-intendierten Konsequenzen“ kommt, wie es der amerikanische Soziologe Robert K. Merton einmal nannte.
Zum Abschluss an Sie, Frau Naz, die Frage: Was ist die zentrale Botschaft, die Sie uns von den „Unheard Voices“ übermitteln wollen?
Naz: Viele können das nicht verstehen, aber die Heimarbeit macht vielen Frauen Freude. In den patriarchalen Strukturen hatten sie bisher kaum Bewegungsspielraum, erst die Wirtschaftskrise hat es ermöglicht, dass sie mit der Heimarbeit zum Familieneinkommen beitragen können. Das sind einfach andere Arten von Leben und eine andere Art von Arbeit. Sie bedeutet diesen Menschen aber sehr viel. Wir sollten sie aber als Arbeiterinnen anerkennen und eher dafür sorgen, dass die Bedingungen und die Entlohnung besser werden. Zum Schluss möchte ich noch betonen: In Pakistan näht man Fußbälle mit den Händen, während global überall Forderungen laut werden, man müsse solche Produktionsprozesse automatisieren. Wir müssen uns dabei aber im Klaren sein: Das ist nicht die Lösung, wenn wir die Welt zu einem besseren Ort von Leben machen wollen, schon gar nicht für alle Menschen und auch nicht mit Blick auf eine ökologische Nachhaltigkeit.
Univ.-Prof. Dr. Dieter Bögenhold
+43 463 2700 3401
Dieter.Boegenhold@aau.at
Ass.-Prof. Dr. Farah Naz
+92 48 9230122
farah.naz@uos.edu.pk
Farah Naz & Dieter Bögenhold (2020). Unheard Voices. Women, Work and Political Economy of Global Production. Springer Verlag.
Merkmale dieser Pressemitteilung:
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