Eine interdisziplinäre Ringvorlesung des Exzellenzclusters untersucht den Einfluss von Kolonialmächten auf soziale, kulturelle und religiöse Zugehörigkeiten – Beispiele von den Juden im Alten Rom über das multikonfessionelle Fatimidenreich im Mittelalter bis zu westafrikanischen Soldaten – Mit Vorträgen von Herfried Münkler, Brigitte Reinwald, Lora Wildenthal, Wolfgang Reinhard – Auftakt zum ersten Themenjahr „Zugehörigkeit und Abgrenzung“
Der Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der WWU befasst sich im Wintersemester mit dem Einfluss großer Kolonialreiche auf die sozialen, kulturellen und religiösen Bevölkerungsgruppen in ihren Ländern und die Folgen bis heute. „Die Gesellschaften im ‚globalen Süden‘ sind bis in die Gegenwart geprägt von ihrer imperialen Vergangenheit: In Südamerika und Afrika verstehen sich Menschen als Christen oder Muslime, leben in Nationalstaaten nach europäischem Vorbild und sprechen Französisch, Spanisch oder Englisch“, erläutern die Ethnologin Prof. Dr. Dorothea E. Schulz und der Rechtshistoriker und Sprecher Prof. Dr. Nils Jansen zum Start der Vorlesungsreihe „Imperien und Zugehörigkeiten“. „Aktuelle Debatten über Rassismus und Kolonialdenkmäler lassen sich nicht ohne Kenntnis der kolonialen Geschichte verstehen. Das gilt auch für viele weitere religiöse, politische und kulturelle Konflikte in der postkolonialen Welt, die Probleme bereiten – etwa um die Teilhabe am nationalen Reichtum und die Rechte von Frauen und Minderheiten“. Imperien hätten in den Kolonien Gruppen verschiedenster Sprache, Religion und kultureller und sozialer Gewohnheit in neue Gemeinschaften gedrängt und Identitäten so erst kreiert. „Das bedeutet aber gerade nicht, diese Prozesse an europäischen Mustern zu messen. Vielmehr hinterfragt die Ringvorlesung europazentrierte Weltbilder, die sich im Zeitalter der großen Kolonien herausgebildet haben und das Denken der meisten Europäer, auch der Wissenschaft, bis heute prägen“, so Jansen und Schulz.
Die Ringvorlesung, zu der Referenten wie der Politikwissenschaftler Herfried Münkler und die Historikerinnen Brigitte Reinwald und Lora Wildenthal erwartet werden, behandelt Fallbeispiele vom Altertum bis ins 20. Jahrhundert. Darunter sind die Geschichte der Juden im Alten Rom, das multikonfessionelle Fatimidenreich im Mittelalter und das Leben westafrikanischer Soldaten, die die französische Kolonialmacht in den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts in Europa einsetzte. Alle diese Imperien zeichnete eine stark asymmetrische Herrschaftsstruktur aus, in der Kolonien aus einem Selbstverständnis der Überlegenheit ausgebeutet wurden. Die Vorträge beleuchten, wie die Vielschichtigkeit von Zugehörigkeiten und sozialen, kulturellen und religiösen Identitäten imperiale Gesellschaften beeinflussten und welche Dynamiken sozialer Formierung damit verbunden waren.
Die Vortragsreihe bildet den Auftakt zum ersten Themenjahr „Zugehörigkeit und Abgrenzung. Dynamiken sozialer Formierung“ des Exzellenzclusters, das sich mit dem Entstehen sozialer Gruppen befasst sowie mit den Identitäten und Konflikten, die daraus erwachsen. Den ersten Vortrag hält am Dienstag, 3. November, der Freiburger Historiker Wolfgang Reinhard zur „Resonanzsensibilität von Kulturen“. Für die Teilnahme per Zoom können sich Interessierte bis Freitag anmelden unter veranstaltungenEXC@uni-muenster.de.
Multiple Identitäten oder Zwang zur Eindeutigkeit
Ein Blick in die afrikanischen Kolonien zeigt nach den Worten der Ethnologin Dorothea Schulz, wie vielschichtig die Zugehörigkeiten waren, die sich dort im Laufe der kolonialen Geschichte entwickelten. „Hier formierten sich neue Eliten als soziale Gruppe, die eine führende Rolle in den Unabhängigkeitsbewegungen seit den 1940er Jahren spielten.“ Sie fühlten sich der europäischen Schulbildung und Sprache zugehörig. „Gleichzeitig grenzten sie sich aber ab von der rassistischen Ideologie der Kolonialmächte, die Mord und Genozide mit einem göttlichen Sendungsauftrag zur Modernisierung rechtfertigten.“
Die Erwartung der Imperien an ihre Bewohner sahen jeweils unterschiedlich aus, wie die beiden Wissenschaftler ausführen: „In manchen Fällen konnten Menschen mit ‚imperialen Biografien‘ multiple Zugehörigkeiten entwickeln, in anderen Fällen hatten sie eindeutige Identitäten anzunehmen.“ Ein Beispiel sei Preußen im 18. und 19. Jahrhundert: „Man herrschte über unterschiedliche, auch verschiedensprachige Bevölkerungsgruppen wie Ostpreußen, Polen, Brandenburger, Rheinländer mit Identitätserwartungen, die die militaristischen und kulturellen Aspekte des Preußentums betrafen. Gleichzeitig ließ man den Bevölkerungsgruppen aber ihre religiösen Identitäten: Preußische Bürger konnten Lutheraner, Katholiken oder auch Juden sein.“ Anders verhielt es sich in der österreichischen Monarchie: „Dieses Vielvölkerreich über eine gemeinsame Sprache und politische Kultur zu integrieren, wäre nicht vorstellbar gewesen.“ Nicht zuletzt deshalb habe das katholische Haus Habsburg auf der religiösen Einheit im Reich bestanden.
„So, wie die alten Römer die Welt ihrer Zeit von Rom aus dachten, sehen viele Menschen die Welt heute in europäischen Kategorien, setzen selbstverständlich europäische Wertüberzeugungen voraus und verstehen die Entstehung unserer modernen Welt anhand europäischer Entwicklungsmuster“, führen Jansen und Schulz mit Blick auf eurozentrische Weltbilder aus. Das entspreche aber „gewiss nicht der Wahrnehmung aus der Perspektive der Bevölkerung der ehemaligen Kolonien“. Hintergrund der Reihe sind langjährige Debatten in der Globalisierungsforschung und globalen Geschichtswissenschaft sowie in der Kolonialismusforschung und postkolonialen Theorie, die traditionelle europäische Geschichtsbilder auf den Prüfstand stellen. „Aus einer globalen Perspektive, die den Blick ehemals kolonialisierter Gesellschaften auf die kolonialisierenden Gesellschaften einbezieht, verlieren spezifisch westliche Sozialtheorien und Konzepte ihre Selbstverständlichkeit.“
Start des Themenjahrs „Zugehörigkeit und Abgrenzung“
Das erste Themenjahr des Exzellenzclusters „Religion und Politik“ steht unter dem Titel „Zugehörigkeit und Abgrenzung. Dynamiken sozialer Formierung“. Das Jahresprogramm 2020/21 wendet sich der Frage zu, wie unterschiedliche soziale Gruppen in pluralen Gesellschaften zusammenleben, wie die Zugehörigkeit zu Gruppen und Vorstellungen von Identität entstehen, wie Konflikte reguliert werden und sozialer Ausgleich zustande kommt. An den verschiedenen Veranstaltungs- und Medienformaten beteiligen sich nicht nur Mitglieder des Exzellenzclusters aus vielen Fächern und Forschungsprojekten, sondern auch Gäste aus anderen Forschungseinrichtungen und aus der Politik. Beteiligt sind Disziplinen wie die Soziologie, Rechts-, Geschichts- und Politikwissenschaften sowie die Psychologie, Philosophie, Theologie und Ethnologie. (sca/vvm)
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, Wissenschaftler
Geschichte / Archäologie, Gesellschaft, Politik, Religion
überregional
Forschungs- / Wissenstransfer, Wissenschaftliche Tagungen
Deutsch
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