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04.11.2020 11:00

Neurologen im Nationalsozialismus: Symposium auf dem DGN-Kongress zur Aufarbeitung eines belasteten Erbes

Dr. Bettina Albers Pressestelle der DGN
Deutsche Gesellschaft für Neurologie e.V.

    Das im Februar erschienene Supplement zur Zeitschrift „Der Nervenarzt“ „Neurologen und Neurowissenschaftler in der NS-Zeit“ ist Resultat eines sechsjährigen medizinhistorischen Projekts, das die DGN in Auftrag gegeben hat, und gibt umfassend Aufschluss über die Verstrickungen der Neurologie in das Nazi-Regime. Doch wie sollen medizinische Fachgesellschaften mit ihrem belasteten Erbe umgehen? Ein „Ausradieren“ von in das NS-Regime verstrickten Persönlichkeiten aus der Ahnengalerie trägt letztlich nur zum Vergessen bei. So kann keine aktive Vergangenheitsbewältigung aussehen. Die DGN schlägt stattdessen den Weg der aktiven Auseinandersetzung und transparenten Dokumentation ein.

    Im Sommer 1907 wurde die „Gesellschaft Deutscher Nervenärzte“ gegründet, die kurz darauf schon in „Deutsche Gesellschaft für Nervenheilkunde“ umbenannt wurde. 1935 verfügte die nationalsozialistische Regierung die Auflösung der Deutschen Gesellschaft für Nervenheilkunde und erzwang ihre Vereinigung mit der Psychiatrie zu einer „Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater“. Im Rückblick ist es wahrscheinlich, dass die Machthaber mit dieser Regierungsanordnung das Ziel verfolgten, das sogenannte Euthanasie-Programm schneller durchführen zu können. 1950 wurde dann die Deutsche Gesellschaft für Neurologie gegründet, von z. T. den gleichen Akteuren, die während des Hitler-Regimes auch politisch aktiv waren. Es ist bekannt, dass die Medizin in der NS-Zeit instrumentalisiert wurde bzw. sich instrumentalisieren ließ und z. T. schwere Schuld auf sich lud, sei es durch aktive Unterstützung des Regimes und seiner menschenverachtenden Pläne, durch zweifelhafte, unethische Forschungsarbeiten – oder wie die große Mehrheit der Bevölkerung auch: durch Schweigen. In der Neurologie hatte sich auf medizinischer und wissenschaftlicher Ebene eine Win-win-Situation durch organisierte Gleichschaltung, aber auch durch Selbstgleichschaltung eingestellt.

    „Wir sind keine Richter, können es auch nicht sein, schließlich haben die meisten von uns nicht in diesen oder ähnlichen Bedingungen leben müssen, dennoch wollen wir uns unsere eigene Meinung bilden, um mit unserem nicht einfachen historischen Erbe entschiedener umgehen zu können“, erklärt Dr. Thomas Thiekötter, Geschäftsführer der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN). 2015 hat die DGN ein auf sechs Jahre angelegtes Forschungsprojekt angestoßen und renommierte Medizinhistoriker damit beauftragt, die Verstrickung der Fachgesellschaft in das Regime der NS-Zeit aufzuarbeiten: Prof. Axel Karenberg (Köln), Prof. Heiner Fangerau und Dr. Michael Martin (Düsseldorf) von den jeweiligen Instituten für Geschichte und Ethik der Medizin dieser Universitäten haben sich dieser Aufgabe angenommen. Das Ergebnis dieser Forschungsarbeit ist eine umfassende Publikation [1], die als Supplement in „Der Nervenarzt“ erschienen ist.

    „Was dort nachzulesen ist, ist erschütternd. Es sind nicht nur die Taten einzelner Akteure während der NS-Zeit, die aufrütteln, sondern auch die Art und Weise, wie ‚geräuschlos‘ nach dem Krieg alles wieder in die Normalität überführt wurde, ehemaliges Schweigen als Widerstand gedeutet, Lebensläufe kurzerhand umgeschrieben wurden und Akteure und Mitläufer des Regimes ohne großes Aufheben nach dem Krieg wieder Ehrenämter bekleideten“, erklärt Prof. Dr. Martin Grond, der zwischen 2014 und 2016 Vorsitzender der DGN war und das Aufarbeitungsprojekt maßgeblich angestoßen hat. „Der Mantel des Schweigens wurde über dieses dunkle Kapitel der Geschichte unserer Fachgesellschaft gelegt und Jahre bzw. Jahrzehnte nicht gelüftet. Konfrontiert mit den historischen Fakten, stehen wir nun vor der Aufgabe der Aufarbeitung und müssen uns überlegen, wie diese ehrlich und zeitgemäß gelingen kann.“

    Der Umgang mit belasteten Persönlichkeiten in der Neurologie
    Wie also umgehen mit der Ahnentafel berühmter Neurologen? Einfach alle streichen, die in der NS-Zeit verstrickt waren und ihre Forschungsleistungen, die es durchaus auch gab, z. T. auch vor der Machtübernahme Hitlers, negieren? Thiekötter und Grond glauben nicht, dass dies der richtige Weg ist: „Was den Umgang mit Namen belasteter Neurologen angeht, haben wir uns bewusst gegen eine Löschung dieser Namen entschieden, da ein Umschreiben von Geschichte grundsätzlich nicht möglich ist, außerdem höchst kontraproduktiv: Aufarbeitung ist ja gerade ein aktiver Prozess der Auseinandersetzung, das Löschen und Negieren würde diesen verhindern und zum Vergessen beitragen.“

    Die DGN hat daher beschlossen, die Erkenntnisse über die im NS-Regime verstrickten Neurologen zu dokumentieren und ihre Biografien mit entsprechenden Anmerkungen zu ergänzen, auch, um anhand dieser Beispiele die ethischen Problemlagen zu vergegenwärtigen. „Diese Periode gehört zur Geschichte unserer Fachgesellschaft – wir möchten eben nicht darüber schweigen, sondern uns aktiv auseinandersetzen, auch zur Mahnung, nicht aus dem Blick zu verlieren, welche Verantwortung wir für die Wahrung moralischer Grenzen medizinischen Forschens und Handelns tragen“, erklärt Prof. Grond.

    Nach Persönlichkeiten benannte Ehrenpreise auf dem Prüfstand
    Nur bei den Wissenschaftspreisen, die nach Persönlichkeiten benannt wurden, liegt der Fall anders: Hier könne man nicht tolerieren, dass Namen, deren aktive Verstrickung im NS-Regime heute bekannt ist, weiterhin die Ehrenpreise der DGN bezeichnen. „Das wäre gegenüber den Opfern des Nationalsozialismus despektierlich und ist auch den Preisträgern nicht zuzumuten“, so Thiekötter. Für 2020 hat die DGN alle Preise, die mit Eigennamen benannt sind, ausgesetzt und will auf dem Online-Kongress der DGN, der heute eröffnet wird, mit den Medizinhistorikern sorgfältig evaluieren und mit den Mitgliedern diskutieren, welche Preise umbenannt werden und welche Preise bzw. Benennungen beibehalten werden können.

    Symposium Neurologie und Neurologen im Nationalsozialismus beleuchtet auch die Opferseite
    Im Symposium auf dem Kongress am 6. November 2020, 17:30–19:00 Uhr, soll auch eine Auseinandersetzung mit den Opfern des Nazi-Regimes stattfinden, unter denen auch Neurologinnen und Neurologen waren. Vortragsthemen sind „Legalisierte Entrechtung: Rahmenbedingungen von Entlassung und Vertreibung im Nationalsozialismus“ (Heiner Fangerau/Michael Martin) und „Sir Ludwig Guttmann: Ein vertriebener Neurologe als späteres Ehrenmitglied der DGN“ (Axel Karenberg/Michael Martin). Das Symposium unter dem Vorsitz von Prof. Dr. Martin Grond, Siegen, und Prof. Dr. Axel Karenberg, Köln, lädt zur Teilnahme und Diskussion ein.

    Literatur
    [1] M. Grond, T. Thiekötter (Hrsg.) Neurologen und Neurowissenschaftler in der NS-Zeit. Supplement in „Der Nervenarzt“ 2/2020.


    Pressekontakt
    Pressestelle der Deutschen Gesellschaft für Neurologie
    c/o albersconcept, Jakobstraße 38, 99423 Weimar
    Tel.: +49 (0)36 43 77 64 23
    Pressesprecher: Prof. Dr. med. Hans-Christoph Diener, Essen
    E-Mail: presse@dgn.org

    Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie e.V. (DGN)
    sieht sich als wissenschaftliche Fachgesellschaft in der gesellschaftlichen Verantwortung, mit ihren über 10.000 Mitgliedern die neurologische Krankenversorgung in Deutschland zu sichern und zu verbessern. Dafür fördert die DGN Wissenschaft und Forschung sowie Lehre, Fort- und Weiterbildung in der Neurologie. Sie beteiligt sich an der gesundheitspolitischen Diskussion. Die DGN wurde im Jahr 1907 in Dresden gegründet. Sitz der Geschäftsstelle ist Berlin. www.dgn.org

    Präsidentin: Prof. Dr. med. Christine Klein
    Stellvertretender Präsident: Prof. Dr. med. Christian Gerloff
    Past-Präsident: Prof. Dr. Gereon R. Fink
    Generalsekretär: Prof. Dr. Peter Berlit
    Geschäftsführer: Dr. rer. nat. Thomas Thiekötter
    Geschäftsstelle: Reinhardtstr. 27 C, 10117 Berlin, Tel.: +49 (0)30 531437930, E-Mail: info@dgn.org


    Weitere Informationen:

    https://www.dgnvirtualmeeting.org/


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten
    Geschichte / Archäologie, Gesellschaft, Medizin
    überregional
    Forschungsprojekte, Wissenschaftliche Tagungen
    Deutsch


     

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