Prof. Dr. Nikolaus Meyer von der Hochschule Fulda hat als Sachverständiger im Deutschen Bundestag zu Sozialer Arbeit in der Corona-Pandemie berichtet und den Abgeordneten seine bundesweite Untersuchung zu den Arbeitsbedingungen der Fachkräfte Sozialer Arbeit während des Lockdowns vorgestellt.
„Zweifelsohne ist es wichtig, dass alle Einrichtungen der Sozialen Arbeit offenbleiben, aber die Arbeitsbedingungen müssen für die Beschäftigten erträglich sein“, sagt Prof. Dr. Nikolaus Meyer, Professor für Profession und Professionalisierung Sozialer Arbeit im Fachbereich Sozialwesen der Hochschule Fulda, mit Blick auf die neuerlichen Einschränkungen zur Eindämmung der Corona-Infektionszahlen. Der Preis für die Offenhaltung der Einrichtungen dürfe nicht sein, dass der Arbeitsschutz für die Beschäftigten faktisch aufgehoben werde.
Im Rahmen eines öffentlichen Expertengesprächs im Deutschen Bundestag zu den Lebensbedingungen von Kindern, Jugendlichen und deren Familien sowie den in der Kinder- und Jugendhilfe tätigen Fachkräften in der Corona-Pandemie hat der Wissenschaftler auf die Arbeitsbedingungen der Fachkräfte während des Lockdowns aufmerksam gemacht. Als Sachverständiger berichtete er am 4. November in der Kommission zur Wahrnehmung der Belange der Kinder (Kinderkommission) über die Ergebnisse einer Untersuchung, die er zwischen 7. und 15 April 2020 während der Phase starker Kontaktbeschränkungen durchgeführt hat. Mehr als 2.300 Beschäftigte aus der Kinder- und Jugendhilfe beteiligten sich. 1.867 Rückmeldungen konnten ausgewertet werden.
Veränderung professioneller Standards
Professor Meyer zeigte, dass sich für die Zeit des Lockdowns erhebliche Veränderungen professioneller Standards nachweisen lassen. So hätten sich durch den fachfremden Druck von außen Veränderungen in allen Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit ergeben. Ein Beispiel seien die Vorgaben für Kindertagesstätten hinsichtlich eines Abstands von 1,5 Metern für Kinder und Erzieher*innen. Dies entspräche aus professionellem Wissen heraus nicht dem Alltag. Immerhin sei für Kinder Nähe ein zentraler Aspekt.
Unpassende Vorgaben durch Engagement abgefedert
Im Ergebnis seien die Fachkräfte Sozialer Arbeit in einen Widerstreit zwischen externen Vorgaben und der eigenen beruflichen Handlungslogik geraten. Die Folge sei für die Beschäftigten, dass sie die unpassenden von außen kommenden Vorgaben so abfedern wollten, dass die Zusammenarbeit mit den oft ohnehin schon schwer belasteten Adressat*innen nicht zusätzlich erschwert würde. Das ginge aber nur, wenn sich die Beschäftigten über das normale Maß engagierten. Das hätten sie getan und fühlten sich nun oft völlig zerrieben zwischen eigenen professionellen Standards und rechtlichen Vorgaben. „Dass Soziale Arbeit funktioniert hat, hat weniger mit den Strukturen zu tun, als vielmehr mit dem Engagement der Beschäftigten“, betonte Professor Meyer und forderte zugleich, die Gesellschaft dürfe sich nicht auf diesem Engagement ausruhen. Die Arbeitsbedingungen und die Belange der Adressat*innen hätten Politik und Gesundheitsbehörden während des ersten Lockdowns nicht im Blick gehabt. Die Beschäftigten in der Sozialen Arbeit bewegten sich damit zwischen Überforderung auf der einen und Marginalisierung auf der anderen Seite.
Förderung gerät in den Hintergrund
Zudem seien oft wichtige gesetzliche Rahmenbedingungen für die Arbeitsbedingungen seit dem Frühsommer außer Kraft, in Hessen beispielsweise das Kinderförderungsgesetz. Damit dürften Menschen ohne jede fachliche Ausbildung Kinder betreuen. Förderung gerate so immer stärker in den Hintergrund und die Arbeitsbedingungen in der Sozialen Arbeit verschlechterten sich weiter. Welche Konsequenzen dies alles für die Adressat*innen habe, sei noch nicht abschätzbar. Offen sei auch noch, ob sich die Veränderungen professioneller Standards etablierten.
Fünf Handlungsempfehlungen
Mit Blick auf die neuerlichen coronabedingten Einschränkungen stellte Professor Meyer den Abgeordneten fünf Handlungsempfehlungen vor:
1. Die Soziale Arbeit muss strukturell in die Pandemie-Maßnahmenplanung eingebunden werden. Immerhin sind von sich verschlechternden Arbeitsbedingungen für die 1,1 Millionen Beschäftigten alleine in Kinder- und Jugendhilfe mehr oder weniger direkt auch die über 4,8 Millionen Kinder und Jugendlichen in Hilfen zur Erziehung betroffen. Mögliche Folgen betreffen dabei zentrale Aspekte der öffentlichen Verantwortung für die Lebenslagen: Es geht um Kinderschutz, Bildungsbenachteiligung und -gerechtigkeit, (bildungs-)biografische Anschlussfähigkeit, Existenzsicherung oder Entlastungsmöglichkeit für berufstätige und alleinerziehende Eltern.
2. Die Betriebsmöglichkeiten aller Einrichtungen in allen Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit müssen auch bei neuen Schutzmaßnahmen sichergestellt sein. Einrichtungen der Sozialen Arbeit sind nicht zur „Bespaßung“ da, so Meyer. Sie sind vielmehr kurz- bis langfristig zentral für das Funktionieren der Gesellschaft. Insofern müssten Einrichtungen der Sozialen Arbeit in die Verordnung zur Bestimmung Kritischer Infrastrukturen aufgenommen werden.
3. Die sich abzeichnende Absenkung von Standards in der Sozialen Arbeit muss unbedingt verhindert werden. Hier muss die Berufsgruppe vielmehr unterstützt werden.
4. Die vielfältigen Corona-Folgen für Soziale Arbeit müssen stärker in den Blick genommen werden. Bisher gibt es hierzu keine staatlichen Forschungsförderprogramme. Die Pandemie ist aber eben nicht nur eine medizinische Notlage, sondern wird auch zunehmend eine soziale.
5. Die Arbeitsbedingungen in der Sozialen Arbeit müssen sich kurzfristig verbessern, sonst bekommen wir als Gesellschaft ein Problem. Schon jetzt sei die Quote bei Burnout extrem hoch, die Pandemie verschlimmere die Arbeitsbedingungen weiter.
Prof. Dr. Nikolaus Meyer
Professor für Profession und Professionalisierung Sozialer Arbeit
Fachbereich Sozialwesen der Hochschule Fulda
E-Mail: nikolaus.meyer@sw.hs-fulda.de
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, jedermann
Gesellschaft, Pädagogik / Bildung
überregional
Forschungs- / Wissenstransfer
Deutsch
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