„Die Debatten um nachhaltige Produktion werden derzeit häufig eher emotional als rational geführt, weil es an einer objektivierten Diskussionsgrundlage fehlt“, erklärt Prof. Wolfram Volk, Leiter des Wissenschafts-ausschusses der WGP (Wissenschaftliche Gesellschaft für Produktionstechnik), anlässlich der als Webkonferenz abgehaltenen Herbsttagung am 4. und 5. No-vember. Deshalb arbeitet die WGP an einer qualitätsgesicherten Datenbasis, mit der die potenziellen Umweltwirkungen von Produkten und Produktionsprozessen mit einer fundierten Beurteilungsmethodik bewertet werden können. Ein Positionspapier hierzu wird die WGP Anfang 2021 veröffentlichen.
„Wir haben, wie im vergangenen Jahr angekündigt, den Stand der Forschung zu nachhaltiger Produktion zusammengetragen und dringende Handlungsbedarfe benannt", so Volk. „Es ist eine Arbeitsgrundlage geschaffen, mit der Unternehmen gemeinsam mit den WGP-Instituten einen Lösungsansatz entwickeln können“, so Volk, der auch Leiter des Lehrstuhls für Umformtechnik und Gießereiwesen (utg) der TU München ist. Das Positionspapier wird Anfang des neuen Jahres veröffentlicht und ist der erste Schritt hin zu einem Handlungsleitfaden für Unternehmen, die eine ökologisch nachhaltigere Produktion angehen wollen.
Ganzheitliches Denken verinnerlichen
Noch vor dem Verkehrssektor zählt die produzierende Industrie zu den größten Treibhausgas-Emittenten Deutschlands. Neben dem Treibhauspotenzial können unter anderem aber auch das Versauerungspotenzial, der abiotische Ressourcen-verbrauch, die Humantoxizität sowie das Ozonbildungspotenzial relevant sein. Es besteht also dringender Handlungsbedarf, den immer mehr Unternehmen für sich definieren und sich beispielsweise mit ihrer Strategie zur klimaneutralen Produkti-on positionieren. „Die Klimaziele, die auch von deutschen Politikern und im euro-päischen Green Deal ausgesprochen wurden, sind ambitioniert, doch sie sind ab-solut realistisch“, betont Prof. Christoph Herrmann, Mitglied der WGP-Arbeitsgruppe „Objektivierung“ und Koordinator des Positionspapiers. „Mit dem von uns jetzt verfassten Dokument zeigen wir nicht nur den Handlungsbedarf auf, um für Unternehmen die systematischen Voraussetzungen für eine nachhaltigere Produktion zu schaffen. Wir wollen mit unseren Forschungsaktivitäten auch die noch ausstehenden Baustellen angehen. Dafür ist es notwendig, dass wir die Pro-duktion als Bestandteil des Lebensweges von Produkten verstehen und ein le-bensphasenübergreifendes Denken, das Life Cycle Thinking, verinnerlichen.“
Umweltschädigungen nicht einfach verschieben
Mit Blick auf immer kürzere Innovationszyklen von Produkten und Prozessen und der schnell fortschreitenden Digitalisierung befinden wir uns mitten in einem dy-namischen Wandel der Produktion. Im Zuge der Schaffung von innovativen Pro-dukten und Technologien sowie neuer Produktionsprozesse und -systeme können Umweltwirkungen leicht von einer Lebensphase oder von einer Umweltwirkungs-kategorie in die andere verschoben werden. So entstehen neue Hotspots und da-mit ungewollte Umweltschädigungen. Das lässt sich nur dadurch verhindern, dass der gesamte Lebensweg eines Produktes in die Berechnung der potenziellen Um-weltauswirkungen aufgenommen wird, von der Gewinnung der Rohstoffe über die Produktnutzung bis zur Verwertung – im besten Falle in Form eines neuen Pro-dukts als Teil einer Kreislaufwirtschaft (Circular Economy). „Bei der Berechnung der Umweltwirkungen ist allerdings entscheidend, wie die Systemgrenzen gesetzt werden“, erläutert Herrmann. „Dies ist eine der Herausforderungen, vor denen wir stehen. Denn ob ich beispielsweise für die Ökobilanzierung eines E-Autos auch die Ladesäulen mit aufnehme oder außen vorlasse, ist für das Ergebnis natürlich we-sentlich.“ Auch additive Fertigungsverfahren sind ein anschauliches Beispiel, um die Notwendigkeit von Life Cycle Thinking einerseits und die Bestimmung der Grenzen des betrachteten Prozesses andererseits darzustellen. Denn ob man industriellen 3D-Druck als ökologischer definiert als herkömmliche Verfahren, hängt nicht nur von der jeweiligen Technologie und den eingesetzten Ausgangs-materialien ab, sondern beispielweise auch von der Frage, ob das additiv gefertig-te Bauteil in der Nutzungsphase Vorteile bietet, zum Beispiel aufgrund einer leich-teren Bauweise. „Es kann aber auch zu unerwünschten beziehungsweise nicht beabsichtigten Folgen kommen, etwa wenn additive Verfahren für die Herstellung eher kurzlebiger Produkte eingesetzt werden.“ Hier müssen die Ansätze aus dem sogenannten Consequential Life Cycle Assessment (CLCA), die Folgen von Ent-scheidungen mit einbeziehen, für Unternehmen handhabbar und damit praxistaug-lich gemacht werden.
Umgang mit Datenflut erleichtern
Es gibt bereits zahlreiche Ansätze, Ökobilanzen zu verbessern. „Einzelne Herstel-lungsprozesse können bereits unter Verwendung qualitätsgesicherter Daten sys-tematisch analysiert und bilanziert werden“, bringt es Herrmann auf den Punkt. „Doch vor dem Hintergrund der Vielzahl von Fertigungsverfahren und -technologien fehlt ein organisationsübergreifender Ansatz, der in Kooperation zwi-schen Wissenschaft und Unternehmen Daten qualitätsgesichert erfasst und be-reitstellt.“ Das heißt: Daten müssen systematisch erfasst und zusammengeführt werden.
Auch angesichts der immensen Datenmengen, die auf diese Weise zusammen-kommen, sind Ökobilanzierungen für Unternehmen mit hohem Zeit- und Know-how-Aufwand verbunden. Beides kann jedoch laut Herrmann mit dem Integrated Computational Life Cycle Engineering (IC-LCE)-Ansatz reduziert werden, einem computergestützten Rechenmodell, bei dem Submodelle derart gekoppelt werden, dass man sehr viel schneller zu Ergebnissen kommt. Auf diese Weise kann eine große Zahl unterschiedlichster Randbedingungen in die Rechnung aufgenommen werden, wie zum Beispiel Unterschiede bei Entsorgungssystemen oder geogra-phisch spezifische Bedingungen am jeweiligen Produktionsstandort, wie die Au-ßentemperatur. Nur mit solchen schnellen Ansätzen können Ökobilanzen hoch-komplexer Produktionssysteme in virtuellen Experimenten analysiert und bewertet werden, bevor das Produkt hergestellt wird. „Anschaulich formuliert ist das wie eine virtuelle Crashsimulation für Autos, bevor sie auf die Straße gelassen wer-den. Haben wir erst einmal eine umfassende Datenbank für sämtliche Produkti-onsprozesse, können Unternehmen diese nutzen, um qualitätsgesicherte Ökobi-lanzen für ihre jeweiligen Produkte und Prozesse zu erstellen.“
Technologien der Mixed Reality helfen bei Ökobilanzierungen
© Johannes Wölper/TU Braunschweig
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, Wirtschaftsvertreter, Wissenschaftler
Informationstechnik, Maschinenbau
überregional
Forschungsprojekte, Wissenschaftliche Tagungen
Deutsch
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