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11.11.2020 17:05

Was verursacht das rätselhafte XENON1T-Signal?

Dr. Gertrud Hönes Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Max-Planck-Institut für Kernphysik

    Im Juni hat die XENON-Kollaboration bekanntgegeben, dass sie mit ihrem XENON1T-Detektor ein unerwartetes Signal gefunden hat. Die Kollaboration weist aber darauf hin, dass es sich um ein bisher unerkanntes Hintergrundsignal handeln könnte. Das Signal auch könnte ein erster Hinweis sein auf neue Physik jenseits des Standardmodells der Teilchenphysik. Diese Aussicht hat Theoretiker auf den Plan gerufen, welche diverse Erklärungen vorgeschlagen haben. Auch Theoretiker am MPIK suchen Erweiterungen des Standardmodells mit geeigneten Parametern, welche nicht nur das XENON1T-Signal erklären könnten, sondern auch mit allen Daten anderer Experimente und kosmologischen Beobachtungen kompatibel sind.

    Die Interpretation des unerwarteten XENON1T-Signals im Elektronen-Rückstoß-Spektrum bei niedrigen Energien führt zu spannenden, in verschiedene Richtungen deutenden Möglichkeiten für neue Physik, die Theoretiker auf der ganzen Welt erkunden. Mehrere Mitglieder der Abteilung von Manfred Lindner und der selbstständigen Gruppe von Florian Goertz am MPIK haben eine Reihe von Publikationen eingereicht, die sehr gut aufgenommen und von den Zeitschriften-Herausgebern teilweise als „Empfehlung“ gekennzeichnet wurden.

    Neutrinos gehören zu den häufigsten Teilchen im Universum, aber auch zu den am wenigsten verstandenen. Im Standardmodell sind Neutrinos masselos und interagieren nur über die schwache Wechselwirkung. Die Entdeckung von Neutrino-Oszillationen bedeutet aber, dass Neutrinos Masse haben und mischen. Um die winzigen Neutrinomassen zu erklären, muss das Standardmodell erweitert werden. In einigen dieser Erweiterungen bekommen Neutrinos durch Quantenschleifen-Effekte auch elektromagnetische Eigenschaften. Deshalb ist die theoretische und experimentelle Erforschung der elektromagnetischen Wechselwirkungen von Neutrinos ein leistungsfähiges Werkzeug für die Suche nach der fundamentalen Theorie hinter dem Mechanismus der Neutrinomassen-Erzeugung.

    Der kürzlich vom XENON1T-Experiment berichtete Überschuss an Elektronen-Rückstoßereignissen könnte als Anzeichen für ein beträchtliches sogenanntes Übergangs-magnetisches Moment solarer Neutrinos interpretiert werden. Ein derart großer Wert führt aber normalerweise zu unannehmbar großen Neutrinomassen. Die Autoren [1] zeigen, dass neue leptonische Symmetrien diesen Widerspruch zwischen magnetischem Moment und Masse lösen können. Sie diskutieren mehrere Modellbeispiele und zeigen, wie strikte astrophysikalische, aus der Sternentwicklung herrührende, Begrenzungen für das magnetische Moment der Neutrinos kein Problem sind. Außerdem sagen derartige Erweiterungen Signale neuer Physik vorher, die andere bevorstehende Beschleuniger- und Niederenergie-Experimente finden könnten.

    Die Verfasser von [2] haben die Möglichkeit untersucht, das unerwartete Signal von XENON1T durch ein Übergangs-magnetisches Moment zu erklären, welches durch die Wechselwirkung von Neutrinos mit noch unentdeckten, aber wohl-motivierten, schweren Neutrinos erzeugt wird. Ein erfolgversprechender Parameterbereich wurde identifiziert und durch die bekannte Physik des frühen Universums und astrophysikalischer Objekte wie Supernovae weiter eingeschränkt. Die Autoren haben auch mögliche Folgerungen dieser Wechselwirkung auf andere erdgebundene Experimente wie Borexino (ein Neutrinodetektor in Italien) untersucht und ein erfolgreiches Hochenergie-Modell vorgeschlagen, welches die erwähnte Wechselwirkung bei niedrigeren Energien realisiert. Dieses Papier würde also seine Bedeutung behalten, selbst wenn sich das XENON1T-Signal als nicht mit neuer Physik verbunden herausstellen sollte.

    Der Überschuss ließe sich auch als direkte Wechselwirkung von Dunkle-Materie-Teilchen und Neutrinos über sogenannte Nicht-Standard-Wechselwirkungen (NSIs) interpretieren [3]. Derartige NSIs könnten als effektive Wechselwirkungen aus unterschiedlichen Neue-Physik-Szenarien stammen. Es gibt zweierlei Interpretationen des Überschusses: NSIs könnten proportional zur inversen Rückstoßenergie verstärkt oder unterdrückt werden. Bei genauer Betrachtung dieser Herangehensweise zeigte sich, dass nicht-standard Neutrino-Wechselwirkungen vektorieller Natur und Milli-Ladungen der Neutrinos aus der elektromagnetischen Natur der Wechselwirkung die führenden Kandidaten für die Erklärung des XENON1T-Überschusses sind. Eine weitere detaillierte Studie [4] hat das anhand von Daten von PandaX-II untermauert. PandaX-II ist ein ähnlicher Detektor, der ebenfalls einen Überschuss bei niederenergetischen Rückstößen, jedoch mit geringerer Zählrate beobachtet hat. Das Team vermutet, dass der Überschuss dem beobachteten Tritium-Untergrund zuzuordnen ist.

    Auch eine neue Kraft, die von einem neuen leichten Austauschteilchen vermittelt wird, welches Neutrinos an Elektronen koppelt, könnte den Überschuss erklären [5]. Formuliert in einer vollständigen Theorie, die mit dem Standardmodell konsistent ist und nicht von anderen Laborexperimenten oder astronomischen Daten ausgeschlossen wird, ergeben sich wichtige Konsequenzen: Die dominierende Wechselwirkung solarer Neutrinos mit den Elektronen der Xenonatome wäre keine rein elastische Kollision. Stattdessen würden die solaren Neutrinos mit den Elektronen reagieren und neue hypothetische „versteckte“ Neutrinos im XENON1T-Detektor erzeugen. Obwohl diese neuen Teilchen den Detektor unbemerkt verließen, würde sich das Energiespektrum der Rückstoßelektronen charakteristisch von dem anderer Erklärungen unterscheiden. Deshalb könnte diese Erklärung schon mit den zusätzlich erwarteten Daten von XENONnT von anderen Erklärungen unterschieden werden. Weil dieses Szenario auf einer vollständigen Theorie beruht, sagt diese Erklärung auch Signale neuer Physik voraus, die andere Experimente wie ATLAS und CMS am LHC oder ALPSII bei DESY entdecken könnten.

    Eine weitere Möglichkeit den XENON1T-Überschuss zu erklären besteht darin, ihn mit Dunkler Materie in Verbindung zu bringen [6]. Die genaue Natur dieser nichtleuchtenden Materie im Universum ist unbekannt, daher kann man ihren Einfluss untersuchen, indem man ihre Eigenschaften in allgemeinen Ausdrücken durch sogenannte effektive Theorien charakterisiert. Eines dieser Modelle enthält auch die notwendigen Zutaten, um den XENON1T-Überschuss zu erklären. Der könnte in diesem Modell daher rühren, dass solare Neutrinos im Detektor streuen, vermittelt durch einen leichten neuen skalaren Mediator des dunklen Sektors. Dieses neue Teilchen würde nicht nur die beobachtete charakteristische Energieverteilung verursachen, sondern auch den Neutrinos ihre Masse geben, ihre Leichtheit erklären und wäre die Verbindung zur Dunklen Materie in unserem Universum.

    Alle diese Veröffentlichungen sind Teil einer andauernden lebhaften Diskussion über mögliche Erklärungen des beobachteten Signal-Überschusses. Die theoretischen Aktivitäten liefern auch nützliche Hinweise für experimentelle Suchstrategien bei verschiedenen anderen Experimenten. Parallel laufen Bemühungen, alle denkbaren experimentellen Aspekte zu überprüfen und Konsistenztests durchzuführen. Manfred Lindner ist zuversichtlich, dass das Rätsel in naher Zukunft gelöst wird: „Inzwischen wurde der XENON1T-Detektor zu XENONnT aufgerüstet und wird gerade vorbereitet deutlich mehr Daten mit besserer Empfindlichkeit aufzunehmen. Dies wird verschiedene detailliertere Studien und Tests ermöglichen.“ Eine jährliche Modulation des Signals mit dem sich ändernden Abstand zur Sonne im Verlauf eines Jahres würde beispielsweise Erklärungen untermauern, in denen neue Wechselwirkungen solarer Neutrinos oder ein Fluss hypothetischer Axionen das Signal verursachen.

    Originalpublikationen:

    [1] Large Neutrino Magnetic Moments in the Light of Recent Experiments, K.S. Babu, Sudip Jana and Manfred Lindner, JHEP 10 (2020) 040 (arXiv:2007.04291), DOI: 10.1007/JHEP10(2020)040

    [2] The Neutrino Magnetic Moment Portal: Cosmology, Astrophysics, and Direct Detection, Vedran Brdar, Admir Greljo, Joachim Kopp, and Toby Opferkuch, arXiv:2007.15563

    [3] Can Nonstandard Neutrino Interactions explain the XENON1T spectral excess? Amir N. Khan, Phys. Lett. B 809 (2020) 135782 (arXiv:2006.12887), DOI: 10.1016/j.physletb.2020.135782

    [4] Constraints on General Light Mediators from PandaX-II Electron Recoil Data, Amir N. Khan, arXiv:2008.10279

    [5] Neutrino Self-Interactions and XENON1T Electron Recoil Excess, Andreas Bally, Sudip Jana, and Andreas Trautner, Phys. Rev. Lett. 125 (2020) 16, 161802, DOI: 10.1103/PhysRevLett.125.161802

    [6] EFT Interpretation of XENON1T Electron Recoil Excess: Neutrinos and Dark Matter, Giorgio Arcadi, Andreas Bally, Florian Goertz, Karla Tame-Narvaez, Valentin Tenorth, and Stefan Vogl, arXiv:2007.08500


    Wissenschaftliche Ansprechpartner:

    Prof. Dr. Dr. h.c. Manfred Lindner
    Tel.: +49 6221 516-800
    E-Mail: manfred.lindner@mpi-hd.mpg.de

    Dr. Florian Goertz
    Tel.: +49 6221 516-822
    E-Mail: florian.goertz@mpi-hd.mpg.de

    Dr. Andreas Trautner
    Tel.: +49 6221 516-816
    E-Mail: andreas.trautner@mpi-hd.mpg.de

    Dr. Sudip Jana
    Tel.: +49 6221 516-285
    E-Mail: sudip.jana@mpi-hd.mpg.de

    Dr. Amir Nawaz Khan
    Tel.: +49 6221 516-823
    E-Mail: amir.khan@mpi-hd.mpg.de


    Bilder

    Rate des elektronischen Rückstoßes als Funktion der Rückstoßenergie bei XENON1T im Modell von [5].
    Rate des elektronischen Rückstoßes als Funktion der Rückstoßenergie bei XENON1T im Modell von [5].

    MPIK


    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten, Studierende, Wissenschaftler
    Physik / Astronomie
    überregional
    Forschungsergebnisse
    Deutsch


     

    Rate des elektronischen Rückstoßes als Funktion der Rückstoßenergie bei XENON1T im Modell von [5].


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