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11.01.2021 17:01

Evolution - Artbildung ohne Abstand

LMU Stabsstelle Kommunikation und Presse
Ludwig-Maximilians-Universität München

    Isolation begünstigt die Artbildung – aber ihr Gegenteil möglicherweise auch, wie LMU-Forscher am Beispiel von Hefe zeigen: Die komplette Vermischung zweier Populationen kann völlig neue ökologische Varianten hervorbringen.

    Selektion durch Anpassung an unterschiedliche Umweltbedingungen ist – wie bereits von Charles Darwin vorgeschlagen – ein zentraler evolutionärer Prozess, durch den Biodiversität entsteht. Geographische Isolation gilt dabei oft als notwendiger Ausgangpunkt für die Bildung neuer Arten: Wenn Populationen getrennt werden, können neue Mutationen entstehen, die sich in der jeweiligen Teilpopulation verfestigen. Unter welchen Bedingungen sich aber auch dann neue Arten bilden, wenn der Genfluss erhalten bleibt, die Populationen sich also nicht gentrennt entwickeln können, sondern fortwährend mischen, ist umstritten. Um diese Frage zu klären, hat der LMU-Evolutionsbiologe Jochen Wolf mit seinem Team die evolutionären Prozesse in einem Evolutionsexperiment in Hefepopulationen untersucht.

    „Ausgangspunkt unserer sechs Jahre dauernden Forschungsarbeit war im Grunde eine einzige Zelle, aus der wir unsere Ausgangspopulation gezüchtet haben“, sagt Wolf. „Dann haben wir die Mutationen über die Zeit ticken lassen und die Evolution über zahlreiche Generationen verfolgt.“ Ausgehend von dem ursprünglichen Vorfahren selektionierten die Wissenschaftler dafür zunächst solche Zellen, die in einer Suspension oben schwammen beziehungsweise auf den Boden absanken. So erhielten sie zwei Populationen, die an unterschiedliche Lebensräume – nämlich „oben“ und „unten“ – angepasst sind. Die unterschiedliche Anpassung hängt dabei unter anderem mit der Fähigkeit zum Verklumpen und der Zellform zusammen.

    Anschließend verfolgten die Wissenschaftler die Evolution der Populationen bei unterschiedlichen Graden der Durchmischung. „Zunächst haben wir die Entwicklung gemäß dem klassischen Isolationsmodell beobachtet, wenn die Populationen „oben“ und „unten“ strikt getrennt bleiben“, erläutert Wolf. Unter diesen Umständen fanden die Forscher ihren Erwartungen entsprechend, dass sich die beiden Populationen weiter an ihren jeweiligen Lebensraum anpassten und sich schnell und deutlich unterschieden: Die an „oben“ angepassten Zellen wuchsen beispielsweise durch asexuelle Zellteilungen viel schneller als die „unten“. Dafür pflanzten sie sich sexuell schlechter fort, da sie weniger Sporen bildeten. „Dies bestätigt, dass die Selektion in unterschiedlichen Lebensphasen nicht unabhängig ist“, sagt Wolf. „Es gibt dabei sogenannte trade offs, das heißt Vorteile in einem Bereich erkauft man mit Nachteilen in einem anderen.“

    Im nächsten Schritt ermöglichten die Wissenschaftler Migration zwischen den beiden Populationen – zunächst betraf der Austausch nur etwa ein Prozent der Zellen jeder Generation, dann steigerte sich dieser Anteil bis zur völligen Vermischung der Populationen. Theoretische Modelle besagen, dass Mischung den Genpool homogenisiert und Unterschiede nivelliert. Dies haben die Wissenschaftler für die mittleren Grade an Vermischung auch tatsächlich beobachtet: Diese Mischungen entwickeln sich zwar auch weiter und werden beispielsweise im Wachstum relativ zu ihren Vorfahren besser, aber innerhalb der Mischung finden sich keine unterschiedlichen Varianten mehr.

    „Bei völliger Durchmischung der Populationen aber haben wir zu unserer Überraschung große Unterschiede gefunden“, staunt Wolf. „Wenn man den Hahn komplett aufdreht, entstehen innerhalb der Mischung plötzlich wieder zwei Varianten, nämlich ein Generalist und ein Spezialist.“ Der Generalist überlebt sowohl „oben“ als auch „unten“ gleichermaßen gut. Der Spezialist ist hier im Nachteil, wächst aber viel schneller als der Generalist und ist daher in der Wachstumsphase im Vorteil. Wolf zufolge kann die Entstehung dieser beiden Fraktionen als erster Schritt der Artbildung trotz maximalem Genfluss betrachtet werden.
    Genetische Untersuchungen zeigten, dass bei der Anpassung an „oben“ und „unten“ ohne Durchmischung unterschiedliche Genvarianten gefördert werden, die im gemeinsamen Vorfahren bereits angelegt waren. Die Entstehung des Spezialisten bei völliger Durchmischung dagegen beruht auf dem Auftreten neuer Mutationen. Dabei gibt es offensichtlich zahlreiche Möglichkeiten: „Die Mutationen sind in unseren Replikaten völlig unabhängig, es gibt kaum dieselbe Mutation – aber die Aufspaltung in Generalisten und Spezialisten konnten wir immer wieder beobachten“, betont Wolf.

    Diese Ergebnisse könnten auch für die Frage relevant sein, wie Populationen auf sich verändernde Lebensräume reagieren: „Man dachte eigentlich immer, dass für eine Anpassung der Genfluss abgeschaltet werden muss“, so Wolf. „Unsere Studie zeigt, dass es auch bei einer sehr starken Konnektivität zwischen Populationen immer noch zu einer unterschiedlichen Anpassung kommen kann, sodass die vorhandenen Lebensräume ausgenutzt werden können.“


    Wissenschaftliche Ansprechpartner:

    Prof. Jochen Wolf
    Evolutionary Biology / Evolutionsbiologie
    LMU Biocenter / Biozentrum der LMU
    Tel.: +49 (0)89 / 2180-74102
    j.wolf@biologie.uni-muenchen.de
    j.wolf@bio.lmu.de
    Lab website: http://www.evol.bio.lmu.de/research/j_wolf/index.html
    http://www.evol.bio.lmu.de/research/j_wolf/group_members_new/wolf1/index.html


    Originalpublikation:

    Experimental evolution of adaptive divergence under varying degrees of gene flow
    Sergio Tusso, Bart P.S. Nieuwenhuis, Bernadette Weissensteiner, Simone Immler, and Jochen B.W. Wolf
    Nature Ecology and Evolution 2020


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten
    Biologie
    überregional
    Forschungsergebnisse
    Deutsch


     

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