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18.02.2021 11:00

Aus der Melodie wächst die Sprache

Gunnar Bartsch Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Julius-Maximilians-Universität Würzburg

    Auf dem Weg zur Sprache sind Melodiemuster in den Lautäußerungen von Säuglingen wichtige erste Schritte. Eine neue Studie zeigt jetzt, dass die Komplexität dieser Muster in den ersten Monaten rasch zunimmt.

    Babys in den ersten Lebensmonaten schreien, lallen, brabbeln oder geben sonstige merkwürdige Laute von sich. Dass sie mit diesen Äußerungen die Grundlagen für das spätere Sprechen legen, ist bisweilen nur schwer vorstellbar. Tatsächlich gibt es dabei ein bestimmendes Element, das beweist, dass sogar schon ihre Schreie sich einer bestimmten Sprache zuordnen lassen: die Sprachmelodie – oder genauer: die Prosodie.

    „Jede Sprache ist durch spezifische musikalische Elemente charakterisiert, die wir als Prosodie bezeichnen“, sagt Kathleen Wermke. Prosodie ist demnach, vereinfacht formuliert, die Kombination aus Intonation (Melodie) und Rhythmus. Frühere Studien habe gezeigt, dass schon Neugeborene dazu in der Lage sind, verschiedene Sprachen, wie beispielsweise Deutsch oder Französisch, anhand von prosodischen Hinweisen, insbesondere der Sprachmelodie, zu unterscheiden. Säuglinge erkennen mithilfe dieser musikalischen Element die jeweilige Sprache, lange bevor sie in der Lage sind, deren spezielle Merkmale wie Konsonanten, Vokale oder Silben wahrzunehmen.

    Studie mit mehr als 67.000 Babylauten

    Kathleen Wermke ist Professorin am Universitätsklinikum Würzburg an der Poliklinik für Kieferorthopädie und leitet dort das Zentrum für vorsprachliche Entwicklung und Entwicklungsstörungen. Gemeinsam mit Wissenschaftlern aus den USA und aus Neuseeland hat sie jetzt die Lautäußerungen von insgesamt 277 Säuglingen während der ersten sechs Lebensmonate genauer untersucht. Insgesamt hat das Team dabei mehr als 67.500 Schreilaute – das sogenannte Hungerweinen, Gurr- und Brabbellaute analysiert.

    „Wir sind dabei auf ein eindeutiges Entwicklungsmuster hin zu mehr Komplexität gestoßen“, fasst Wermke das Ergebnis der jetzt in der Fachzeitschrift Scientific Reports veröffentlichten Studie zusammen. Demnach ist der steigende Grad an Komplexität ein wichtiger Baustein auf dem Weg zur Sprache. Das Wissen darüber verbessert nach Ansicht des Forschungsteams nicht nur das Verständnis der frühen Vorbereitungsprozesse für den Spracherwerb erheblich. Es macht es darüber hinaus möglich, potenzielle Anzeichen einer Sprachentwicklungsstörung zu identifizieren.

    In den ersten sechs Monaten steigt die Komplexität

    In seiner Studie hat das Team zwei Arten von Lautäußerungen bei Babys unterschieden: Schrei- und Nicht-Schrei-Vokalisationen in der Fachsprache genannt. Oder anders formuliert: Das im Beisein der Mutter geäußerte „kommunikative“ Schreien, das aus einem Unwohlsein wie beispielsweise Hunger und bei dem Wunsch nach Kontakt resultiert. Und die Laute, die ein Baby von sich gibt, wenn es sich wohlfühlt und lautlich interagiert. „Ziel der Studie war es, eine objektive Entwicklungsanalyse prosodischer Vorläufer in Form von Melodien bei gesunden Säuglingen von der Geburt bis zum 6. Lebensmonat in allen ihren Vokalisationen durchzuführen“, sagt Wermke. Ihre Hypothese lautete: Beide Vokalisationsarten weisen eine charakteristische entwicklungsbedingte Zunahme komplexer Melodien auf.

    Tatsächlich zeigt die Auswertung, dass die Melodien spontaner Schreie während der ersten 180 Lebenstage immer komplexer werden. Komplex heißt in diesem Fall, dass einfache Melodiebögen zunehmend von mehrbögigen Melodien abgelöst werden, die Grundlage für den Variantenreichtum späterer Intonationsmuster in der Sprache also bereits im Weinen gelegt wird. Vergleichbar war die Entwicklung bei Lautäußerungen, die unter die Kategorie der „Komfort-Vokalisationen“ fallen. Auch bei ihnen nahm der Grad an Komplexität zu, allerdings mit einem zeitweiligen Rückgang im Alter von etwa 140 Tagen.

    Schnelles Gehirnwachstum ist die Basis

    „Bereits am Ende des ersten Lebensmonats weist das Schrei-Repertoire der untersuchten Babys in mehr als der Hälfte der Fälle eine komplexe Melodie auf“, sagt Wermke. In 30 Tagen von einfachen Melodiebögen zu mehrbögigen Melodien: Dieses Entwicklungsprogramm basiert auf einer Frühreife der neurophysiologischen Mechanismen, die der Melodieproduktion zugrunde liegen. Tatsächlich wächst das Gehirn Neugeborener in dieser Zeit ebenfalls ungeheuer schnell, und schon Neugeborene zeigen erstaunliche Koordinationsleistungen zwischen Atmung und Stimmproduktion. Darüber hinaus weist das frühe Auftreten komplexer Schrei-Melodien nach Ansicht der Wissenschaftler darauf hin, dass Säuglinge schon vor der Geburt in der Gebärmutter eine Art Training, eine „vorbereitende“ Entwicklung durchlaufen haben, um nach beziehungsweise beim Startschuss „Geburt“ sofort mit der Melodieentwicklung loszulegen.

    Für den leichten Rückgang an Komplexität im Alter zwischen vier und fünf Monaten haben Wermke und ihre Ko-Autoren eine Erklärung: „In dieser Zeit erweitern Säuglinge ihr Repertoire an Lautäußerungen um neue Bestandteile, die mit der gesamten melodischen Kontur interagieren, nämlich vokal- und konsonantenähnliche Elemente“, sagt Kathleen Wermke. Gleichzeitig verändern sich Kehlkopf und Stimmtrakt, was eine Reihe von Anpassungsprozessen bei der Lautproduktion nach sich zieht. Darüber hinaus beginnen Babys in dieser Phase damit, erste Silbenkombinationen beim Lallen und Brabbeln zu produzieren. „Diese neue Entwicklungsperiode bewirkt offenbar eine vorübergehende ‚Regression‘ in der Melodieentwicklung, um die vokale Entwicklung auf einer höheren Hierarchieebene zu etablieren“, heißt es dazu in der Studie. Im Anschluss daran beginnt der Säugling, Intonationsmuster der ihn umgebenden Sprache – oder Sprachen – in Konsonant-Vokal-Silbenfolgen beim Lallen intentional zu imitieren.

    Voraussetzung für innovative Therapien

    Das jetzt vorgelegte Entwicklungsmodell kann nach Ansicht der Beteiligten zu einem besseren Verständnis darüber beitragen, warum der menschliche Säugling so schnell und scheinbar mühelos eine so komplexe Fähigkeit wie Sprache erwirbt. Was sich nach trockener Grundlagenforschung auf dem Gebiet des Lautspracherwerbs anhört, hat dennoch einen sehr praktischen Bezug. „Das Wissen über diesen Entwicklungsprozess wird es uns ermöglichen, klinisch robuste Risikomarker für Sprachentwicklungsstörungen zu identifizieren“, sagt Wermke. Dies sei die entscheidende Voraussetzung, um neue und innovative Therapien für Kleinkinder mit einem Risiko für Sprachstörungen zu entwickeln.


    Wissenschaftliche Ansprechpartner:

    Prof. Dr. Kathleen Wermke, Zentrum für vorsprachliche Entwicklung und Entwicklungsstörungen, T: +49 931 201 73 430; Wermke_K@ukw.de


    Originalpublikation:

    Melody complexity of infants’ cry and non-cry vocalisations increases across the first six months. K. Wermke, Michael P. Robb, Philip J. Schluter. Scientific Reports. DOI: 10.1038/s41598-021-83564-8; www.nature.com/articles/s41598-021-83564-8


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten, Wissenschaftler
    Medizin, Sprache / Literatur
    überregional
    Forschungsergebnisse
    Deutsch


     

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