idw – Informationsdienst Wissenschaft

Nachrichten, Termine, Experten

Grafik: idw-Logo
Science Video Project
idw-Abo

idw-News App:

AppStore

Google Play Store



Instanz:
Teilen: 
15.03.2021 15:04

Wohnen als Integrationskraft

Andrea Mayer-Grenu Abteilung Hochschulkommunikation
Universität Stuttgart

    Welche Merkmale von Wohnformen zum Gelingen von Integration beitragen, das haben Prof. Christine Hannemann und Karin Hauser vom Fachgebiet Architektur- und Wohnsoziologie der Universität Stuttgart untersucht. Die Ergebnisse haben sie 2020 in einer Publikation veröffentlicht.

    Wohnen ist mehr, als ein Dach über dem Kopf zu haben. Welche Wohnkonzepte ermöglichen und fördern Begegnungen und gemeinsame Aktivitäten? Und welche haben zugleich die individuellen Bedürfnisse der Zusammenwohnenden im Blick? Christine Hannemann, Professorin im Fachgebiet Architektur- und Wohnsoziologie am Institut für Wohnen und Entwerfen (IWE) der Universität Stuttgart und Karin Hauser, wissenschaftliche Mitarbeiterin am IWE, haben zusammen mit anderen Forschenden untersucht, welche Merkmale von Wohnprojekten dazu beitragen, dass die Integration von Zugewanderten gelingt. Ihre Ergebnisse haben sie 2020 in dem Buch „Zusammenhalt braucht Räume – Wohnen integriert“ veröffentlicht.

    Den Autorinnen ist neben dem wissenschaftlichen Diskurs über das Thema auch eine öffentliche Diskussion wichtig. Deshalb stellen sie ihre Ergebnisse im Rahmen verschiedener Veranstaltungen vor, so zum Beispiel im Februar 2021 in einer vom Hospitalhof Stuttgart organisierten Online-Präsentation mit anschließender Diskussion, der über 150 Teilnehmerinnen und Teilnehmer gefolgt waren.

    „Erstaunlicherweise fehlt bisher das Wohnen bei Beschreibungen des Integrationsbegriffs“, stellt Prof. Christine Hannemann fest. Als wichtige Aspekte sozialer Integration von Zugewanderten würden meist Sprache, die (Berufs-)Ausbildung, der Arbeitsmarkt und politische Teilhabe genannt. „Doch auch Wohnen gehört dazu, da es eine Existenzgrundlage darstellt!“ Hannemann zitiert aus dem Buch ihre zentrale These: „Integration und Zusammenhalt braucht ganz konkret Wohnraum. Wohnen ist in der Einwanderungsgesellschaft von grundsätzlicher Bedeutung. Denn Wohnungs- und Städtebau sind wesentliche Schlüssel zum Gelingen von Integration in Stadt und Quartier.“

    Mit diesem Ansatz hatte sich die Soziologin mit ihrem Team und dem Deutschen Institut für Urbanistik (Difu) als Verbundpartner 2016 für eine Projektförderung beim Bundesministerium für Bildung und Forschung erfolgreich beworben. Die Bedeutung von Zusammenhalt und sozialen Problemen, wie Einsamkeit und Isolation, betreffe nicht nur Neuzugewanderte, sondern auch viele andere Gruppen, wie zum Beispiel jüngere Menschen. Dies sehe man gerade jetzt zur Zeit der Pandemie sehr deutlich, so Hannemann.

    Betrachtung von sechs Fallstudien

    Das Forschungsteam hat zusammengetragen, welche integrativen Wohnprojekte bundesweit schon vorhanden sind. Integratives Wohnen ist ein interkulturelles, moderiertes und freiwilliges Zusammenwohnen von verschiedenen sozialen Gruppen und Personen unterschiedlicher geografischer Herkunft. Im Fokus der Forschung stand dabei das Zusammenleben von Neuzugewanderten und Ortsansässigen. Das Team um Prof. Hannemann untersuchte 36 Wohnprojekte und wählte daraus in enger Zusammenarbeit mit dem wissenschaftlichen Beirat des Forschungsprojekts sechs Fallstudien aus. Die Auswahl fand nach sechs sozialen und architektonischen Kriterien statt: Soziale Zusammensetzung/Bewohnerschaft, Nachbarschafts-/Quartiersbezug, zivilgesellschaftliches Engagement, architektonisches Erscheinungsbild, baulich-räumliche Typologie und städtebaulicher Kontext.

    Die sechs Fallstudien haben verschiedene Träger, beispielsweise kirchliche oder städtische. Es gibt Neubauten oder alten Baubestand darunter, sowie große Gebäude für viele Bewohner*innen und kleine, zum Beispiel ein ehemaliges Pfarrhaus für zehn Bewohner (Zwei Jesuitenpatres und acht Männer unterschiedlichen Alters, Herkunft und Religion). Das Hoffnungshaus in Leonberg beispielsweise besteht sogar aus drei Gebäuden, in denen rund 40 Bewohner*innen leben, darunter Familien, Einzelpersonen, Neuzugewanderte und Ortsansässige inklusive der Hausleitung mit ihrer Familie. Hier gibt es Gemeinschaftsräume, Garten und Veranstaltungsräume, die auch der Nachbarschaft offen stehen. Die Wohnprojekte sind in den letzten Jahren ab 2015 entstanden.

    Neun Gelingensfaktoren

    „Wir haben Gespräche mit Bewohner*innen und Schlüsselpersonen geführt und gesehen, welche Wege die Bewohner*innen innerhalb und außerhalb der Gebäude gehen und wo spontane Begegnungen stattfinden. Wir haben die Atmosphäre vor Ort miterlebt“, berichtet Karin Hauser. „Trotz der sehr unterschiedlichen Fallstudien konnten wir Gemeinsamkeiten herausstellen“, erklärt Christine Hannemann. Als Ergebnis haben Hannemann und Hauser neun Gelingensfaktoren integrativer Wohnprojekte identifiziert.

    1. Architektonische Botschaft
    Bei der Fallstudie in Hamburg haben die Gebäude beispielsweise ein gleiches Erscheinungsbild. Wie bei einer Schuluniform wird dadurch ein Zugehörigkeitsgefühl geschaffen.

    2. Stadträumliche Integration
    Integration in den Stadtraum funktioniert nur in einer städtisch eingebundenen Wohnlage, die fußläufig erreichbare Infrastrukturen wie Einzelhandel, Bildungseinrichtungen, medizinische Versorgung, Kindergärten und Freizeiteinrichtungen aufweist und gut an den öffentlichen Nahverkehr angebunden ist.

    3. Baulich-räumliche Vernetzung
    Ein Vorhandensein von öffentlichen, gemeinschaftlichen und privaten Flächen. Spontane, alltägliche Kontakte sind leicht möglich.

    4. Interne Begegnungsmöglichkeit
    Beispiel Fallstudie Abuna-Frans-Haus in Essen: Es gibt viele Gemeinschaftsräume wie Küche, Werkstatt, Sportraum, Garten und Spielplatz.

    5. Privater Rückzugsraum
    Private Einzelzimmer oder Wohnungen als „Schutzraum“ und Orte des Rückzugs.

    6. Gesicherte Wohnperspektive
    Unbefristeter Mietvertrag mit gesetzlicher Kündigungsfrist. Eine stabile Gemeinschaft kann entstehen, die Menschen können zur Ruhe kommen, sich wohlfühlen.

    7. Soziale Verwaltung
    Wichtig ist eine Moderation der Hausgemeinschaft, eine Steuerung des Miteinanders. Diese Aufgabe kann zum Beispiel eine Sozialarbeiterin oder ein Sozialarbeiter übernehmen, der auch im Gebäude wohnt.

    8. Systematische Selbstbefähigung
    Die Schaffung von Beteiligungsformaten zum Mitbestimmen und Einbringen, wie zum Beispiel Haustreffen.

    9. Geplante Quartiersbrücken
    Vernetzung ins Quartier, eine gelebte Nachbarschaft: Bewohner*innen sind Mitglied in örtlichen Vereinen, und die Nachbarschaft kommt zu verschiedenen Veranstaltungen ins Haus.

    Viel positive Resonanz

    In der anschließenden Diskussion fragten die Zuhörerinnen und Zuhörer unter anderem nach den Wohnkosten. Da es sich vorwiegend um geförderten Wohnraum handelt, ist die Miete niedriger als auf dem freien Wohnungsmarkt. Weitere Themen waren die Auswahl der Bewohner*innen, die meist durch ein Bewerbungsgespräch stattfindet. In diesem wird darauf eingegangen, dass ein besonderes Engagement erwartet wird (zum Beispiel die Teilnahme an Hausversammlungen, die Unterstützung beim Cafébetrieb oder ganz allgemein das Einbringen in die Gemeinschaft). Christine Hannemann und Karin Hauser sind sehr zufrieden mit der Resonanz auf die bisherigen Veranstaltungen und auf ihre Buchveröffentlichung: „Unser Wunsch ist es, dass die Ergebnisse eine möglichst breite Anwendung finden.“


    Wissenschaftliche Ansprechpartner:

    Prof. Dr. Christine Hannemann
    Universität Stuttgart, Institut Wohnen und Entwerfen (IWE)
    Tel.: ++49 711 685-84203, christine.hannemann@iwe.uni-stuttgart.de

    Karin Hauser
    Universität Stuttgart, Institut Wohnen und Entwerfen (IWE)
    Tel. ++49 711 685-81039, karin.hauser@iwe.uni-stuttgart.de


    Originalpublikation:

    Hannemann C., Hauser K. (Hg.) (2020). Zusammenhalt braucht Räume – Wohnen integriert. Jovis Verlag, Berlin.


    Weitere Informationen:

    https://www.beschaeftigte.uni-stuttgart.de/uni-aktuell/meldungen/publizieren-zus...
    https://zusammenhaltbrauchtraeume.de/


    Bilder

    Quartier Ohlendiekshöhe in Hamburg.
    Quartier Ohlendiekshöhe in Hamburg.

    IWE-FG 2018

    Das Hoffnungshaus in Leonberg wurde im Rahmen der sechs Fallstudien genauer untersucht. IWG-FG 2018
    Das Hoffnungshaus in Leonberg wurde im Rahmen der sechs Fallstudien genauer untersucht. IWG-FG 2018

    IWG-FG 2018


    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten, Wirtschaftsvertreter, jedermann
    Bauwesen / Architektur, Gesellschaft, Kulturwissenschaften
    überregional
    Forschungsergebnisse, Forschungsprojekte
    Deutsch


     

    Quartier Ohlendiekshöhe in Hamburg.


    Zum Download

    x

    Das Hoffnungshaus in Leonberg wurde im Rahmen der sechs Fallstudien genauer untersucht. IWG-FG 2018


    Zum Download

    x

    Hilfe

    Die Suche / Erweiterte Suche im idw-Archiv
    Verknüpfungen

    Sie können Suchbegriffe mit und, oder und / oder nicht verknüpfen, z. B. Philo nicht logie.

    Klammern

    Verknüpfungen können Sie mit Klammern voneinander trennen, z. B. (Philo nicht logie) oder (Psycho und logie).

    Wortgruppen

    Zusammenhängende Worte werden als Wortgruppe gesucht, wenn Sie sie in Anführungsstriche setzen, z. B. „Bundesrepublik Deutschland“.

    Auswahlkriterien

    Die Erweiterte Suche können Sie auch nutzen, ohne Suchbegriffe einzugeben. Sie orientiert sich dann an den Kriterien, die Sie ausgewählt haben (z. B. nach dem Land oder dem Sachgebiet).

    Haben Sie in einer Kategorie kein Kriterium ausgewählt, wird die gesamte Kategorie durchsucht (z.B. alle Sachgebiete oder alle Länder).