Differenziertes Wissen zur nationalsozialistischen deutschen Vergangenheit kann dazu beitragen, Instrumentalisierung und Relativierung der Geschichte entgegenzutreten. Dies ist ein Fazit des vom Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) der Universität Bielefeld vorgelegten „Multidimensionalen Erinnerungsmonitors – MEMO Deutschland IV/2021“. Die jährliche Befragung wird von der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ (EVZ) gefördert.
Mit Blick auf geschichtsrevisionistische Vorfälle bei den sogenannten „Corona-Demonstrationen“ wurde erhoben, wie die Umfrageteilnehmenden auf NS-Vergleiche reagieren. Die Studie zeigt, dass knapp 90 Prozent der Befragten es bei direkter Nachfrage ablehnen, das Leiden der deutschen Bevölkerung während der Covid-19-Pandemie mit dem Leid von Menschen während der NS-Zeit gleichzusetzen.
Zugleich wird deutlich, dass die Befragten, die stärker an Verschwörungserzählungen glauben, historisch weniger gut informiert sind und häufiger mit revisionistischen Perspektiven auf die Zeit des Nationalsozialismus blicken. Damit befeuern sie verzerrte Wahrnehmungen der Geschichte, die insbesondere Fragen der Täter- und Opferschaft während des Nationalsozialismus betreffen. Während viele Befragte die NS-Erinnerungskultur als bedeutsam und sich selbst als gut informiert einschätzen, zeigen sich Lücken im tatsächlichen Wissen über die Geschichte und im Bewusstsein für die Kontinuitäten menschenfeindlicher Einstellungen in der heutigen Gesellschaft.
„Die gegenwärtig kursierenden Verschwörungserzählungen von Corona-Leugnenden und anderen Gruppen sind eine neue Herausforderung für die Erinnerungs- und Gedenkkultur“, sagt Professor Dr. Andreas Zick, Leiter des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) der Universität Bielefeld. „MEMO zeigt, dass Menschen, die Verschwörungserzählungen glauben, eher die Bevölkerung während der NS-Zeit von Verantwortung entlasten, das Leiden der NS-Opfer mit dem der Täter gleichsetzen und an der Verfolgung der Jüdinnen und Juden zweifeln“, sagt der Konfliktforscher. Zum Projektteam der MEMO-Studie gehören außer Zick auch die IKG-Wissenschaftler*innen Michael Papendick, Dr. Jonas Rees und Maren Scholz.
Nationalsozialistische deutsche Geschichte – ein abgeschlossenes Kapitel?
MEMO 2021 hat unter anderem untersucht, welche Ereignisse seit 1945 Befragte mit der NS-Geschichte in Verbindung bringen. Jede*r Fünfte (20 Prozent) nennt auf diese Frage rechtsextremen Terror wie die Anschläge des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) oder den Anschlag in Hanau im vergangenen Jahr. Der größte Teil der Befragten (46 Prozent) gibt auf die Frage nach Ereignissen mit NS-Bezug jedoch keine Antwort und sieht keine Verbindungen.
„Wir finden in unseren Studien wiederholt das Bild einer ‚historisch sensibilisierten‘ Gesellschaft, das sich bei genauem Nachfragen aber nicht immer bestätigt“, sagt der IKG-Forscher Michael Papendick, Koordinator des Projekts MEMO. „Das betrifft das konkrete Wissen über die NS-Zeit aber auch das Wissen um Kontinuitäten nationalsozialistischen Gedankenguts. Unser ‚Geschichtsbewusstsein‘ sollte nicht 1945 enden, sondern die jüngere Vergangenheit und Gegenwart einbeziehen, wenn es unser Anspruch ist, aus der Geschichte zu lernen.“
Ausmaß der Zwangsarbeit in der NS-Zeit noch immer unterschätzt
Die Anzahl der Zwangsarbeiter*innen im nationalsozialistischen Deutschland schätzen die Befragten mit etwa vier Millionen Menschen als deutlich geringer ein als es die historischen Schätzungen tun. Diese gehen von über 13 Millionen Zwangsarbeiter*innen im damaligen „Deutschen Reich“ aus. Mehr als 80 Prozent der Befragten verneinen, dass ihre eigenen Vorfahren Zwangsarbeiterinnen oder Zwangsarbeiter in ihren Unternehmen, in ihren Haushalten oder auf ihren Höfen arbeiten ließen.
Dazu sagt Dr. Andrea Despot, Vorstandsvorsitzende der Stiftung EVZ: „Zwangsarbeit war nahezu allgegenwärtig und überall. Die Ausbeutung und Vernichtung durch Arbeit hatte Methode – in Fabrikhallen ebenso wie auf Bauernhöfen oder in Privathaushalten. Die Erinnerung an die Zwangsarbeiter*innen, das Unrecht und ihr Leid wach zu halten, den Überlebenden im jetzt hohen Alter soziale Teilhabe zu ermöglichen – dafür steht die Stiftung EVZ.“
Neue Wege der Auseinandersetzung mit NS-Unrecht
Das Wissen über NS-Unrecht ist kein Selbstzweck, es stärkt den gesellschaftlichen Zusammenhalt heute und hilft, Geschichtsrevisionismus zu bekämpfen. Neben etablierten Methoden der Vermittlung – etwa Sachbücher, Filme und Gedenkstätten – entstehen neue, digitale Wissenszugänge und Lernmethoden. MEMO 2021 untersucht deshalb auch, wie offen die Befragten für digitale Vermittlungsangebote zum Thema Nationalsozialismus sind. Jüngere Befragte zeigen sich dabei interessierter an neuen Formen der Auseinandersetzung. Offen sind die Befragten für ein Gespräch mit „digitalen Zeitzeug*innen“ (40 Prozent), der Auseinandersetzung über Podcast-Beiträge (27 Prozent) oder virtuelle Besichtigungen von KZ-Gedenkstätten (26 Prozent).
Über alle erfragten Zugänge hinweg zeigt sich ein vergleichsweise hoher Anteil von Befragten, die neue Zugänge nicht nutzen würden. „Digital ja, aber zum verstehenden und mitfühlenden Erinnern gibt es keinen Königsweg. Wir nehmen das Resultat auch als Auftrag, in unserer Förderung auszuloten, wie Innovation, Didaktik und die Vermittlung dieser Ansätze zusammenkommen können – über Lernformen, Altersgruppen und Länder hinweg“, fasst Dr. Andrea Despot die Ergebnisse zusammen. „Umso wichtiger ist vor dem Hintergrund der MEMO-Ergebnisse eine lebendige Erinnerungskultur, die Neugierde weckt, Bezüge herstellt und möglichst viele Menschen in unserer Gesellschaft anregt, sich aktiv mit historischem Wissen auseinanderzusetzen.“
Über MEMO
Für MEMO 2021 sind 1.000 zufällig ausgewählte Personen im Zeitraum von Dezember 2020 bis Januar 2021 telefonisch befragt worden. Die Befragten waren zwischen 16 bis 87 Jahren alt. MEMO Deutschland ist eine empirische Dokumentation zur Erinnerungskultur der Bundesbürger*innen und bildet seit 2017 als jährliche bevölkerungsrepräsentative Befragung ab, wie sich unser Erinnern verändert.
Über die Stiftung EVZ
Die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ (EVZ) bezeugt die politische und moralische Verantwortung von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft für das nationalsozialistische Unrecht. Auseinandersetzung mit der Geschichte, Handeln für Menschenrechte und Engagement für Opfer des Nationalsozialismus sind die Handlungsfelder, in denen die öffentlich-rechtliche Stiftung heute tätig ist. Jährlich werden rund 300 Projekte in 20 Ländern von der Stiftung EVZ gefördert.
Über das IKG
Das Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) wurde 1996 in Bielefeld gegründet, mit dem Ziel, eine Lücke in der interdisziplinären Konflikt- und Gewaltforschung zu schließen. Mittlerweile ist das IKG eine der führenden deutschen Forschungseinrichtungen in diesem Bereich und bietet eine umfassende Struktur für interdisziplinäre Theorieentwicklung und empirische Forschung zu politisch und gesellschaftlich relevanten Phänomenen um Konflikte und Gewalt sowie ihren Implikationen für sozialen Zusammenhalt, Partizipation, Demokratie und Frieden.
Prof. Dr. Andreas Zick, Universität Bielefeld
Institut für Konflikt- und Gewaltforschung (IKG)
Tel: 0521-106 3124 (Sekretariat)
E-Mail: sekretariat.ikg@uni-bielefeld.de
https://www.stiftung-evz.de/handlungsfelder/auseinandersetzung-mit-der-geschicht... MEMO-Website
https://aktuell.uni-bielefeld.de/wp-content/uploads/2021/05/memo_grafik_2021.pdf Zentrale Ergebnisse der aktuellen Studie als Infografiken
„Die gegenwärtig kursierenden Verschwörungserzählungen von Corona-Leugnenden und anderen Gruppen sin ...
Foto: Universität Bielefeld
„Wir finden in unseren Studien wiederholt das Bild einer ‚historisch sensibilisierten‘ Gesellschaft, ...
Foto: Universität Bielefeld
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten
Gesellschaft, Pädagogik / Bildung, Politik, Psychologie
überregional
Forschungsergebnisse, Forschungsprojekte
Deutsch
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