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07.05.2021 11:52

Fashion Victims an Bord des „Narrenschiffs“ von Sebastian Brant

Viola van Melis Zentrum für Wissenschaftskommunikation
Exzellenzcluster „Religion und Politik“ an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster

    Moralsatire über menschliches Fehlverhalten lädt auch 500 Jahre nach Tod des Autors und Humanisten zur Selbsterkenntnis ein – Holzschnitte von Albrecht Dürer erlauben Parallelen zur Graphic Novel – Wissenschaftsfeindlichkeit schon bei Erfindung des Buchdrucks verhandelt – Folge 5 des Forschungspodcasts „Religion und Politik“ des Exzellenzclusters

    Übertriebene Eitelkeit, Untreue, schlechte Tischmanieren: Die Moralsatire „Das Narrenschiff“ des vor 500 Jahren verstorbenen Humanisten Sebastian Brant präsentiert menschliches Fehlverhalten aller Art in zugespitzter Form. „Damit hält der Autor und Jurist, der am 10. Mai 1521 in Straßburg starb, Leserinnen und Lesern einen Spiegel vor. Obwohl aus der damaligen Geisteshaltung eines christlichen Humanismus geschrieben, die heute an Einfluss verloren hat, lassen Brants Beobachtungen seiner Mitmenschen erstaunliche Parallelen zu gegenwärtigen Trends und Bedürfnissen zu“, sagt der Germanist Prof. Dr. Bruno Quast vom Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der Uni Münster, der sich in seinen Forschungen mit Literatur der Reformationszeit beschäftigt. Das populärste Werk vor der Reformation, in dem rund hundert „Narren“ eine Schiffsreise antreten, enthält Kritik an Streit-, Spiel- und Trinksüchtigen wie an Wucherern und Modetoren. „Dieser Abschnitt erinnert an Fashion Victims heute, andere an Knigge und Ratgeber. Ob Brants Warnung vor übereifriger Suche nach dem Glück oder die Mahnung zum ‚rechten Maß‘ als Gegengift zur Narrheit: Mancher findet das auch jetzt hilfreich.“ All dies wird in einem Text-Bild-Zusammenspiel verhandelt: Albrecht Dürer lieferte illustrierende Holzschnitte. „Diese Komposition finden wir ähnlich in Graphic Novels wieder“, so Quast. Auch Wissenschaftsfeindlichkeit taucht auf, „bereits zur Zeit der Erfindung des Buchdrucks ein Problem“.

    Das 1494 veröffentlichte „Narrenschiff“ wurde zum beliebtesten Buch vor der Reformation und damit ein frühneuzeitlicher Bestseller. „In rund 100 kurzen Kapiteln eröffnet Brant ein schillerndes Kaleidoskop an unpassendem Verhalten gegenüber Gott und den Mitmenschen.“ Leserinnen und Lesern begegnen etwa ein Büchernarr, der sich mit dem Besitz ungelesener Literatur schmückt, ein Kranker, der den Rat des Arztes nicht befolgen will, sowie Spieler und Trinker, die über ihren Lastern die Pflichten des Alltags vergessen. Kaum jemand, der darin nicht Menschen aus seinem Umfeld oder sich selbst wiederfindet: „Im Abschnitt über Modetorheiten werden die Rocklänge, Bartmoden sowie eine Angleichung der Haartracht zwischen Männern und Frauen kritisiert“, sagt Bruno Quast. Trotz humoristischer Zuspitzung, die an politische Karikaturen oder Kabarett erinnert, bleibt dem Forscher zufolge ein ernster Kern. „Brant ermahnt, kritisch auf sich selbst zu schauen, bevor man mit dem Finger auf andere zeigt.“ Der Literaturwissenschaftler stellt in Folge 5 des Forschungspodcasts „Religion und Politik“ zum Themenjahr „Zugehörigkeit und Abgrenzung“ Werk und Autor vor (http://go.wwu.de/ohnfz).

    Ob Schwätzer oder Neider: Niemand wird verschont

    „Sebastian Brant verbindet in seinem Werk die antike Tugendlehre des richtigen Maßes mit dem christlichen Reformgedanken, der auf eine striktere Einhaltung der Zehn Gebote abzielt“, erläutert Quast. Auf der Reise ins fiktive Land Narragonien werden die Narren reihum der Lächerlichkeit preisgegeben und in den Illustrationen etwa mit der sprichwörtlichen Narrenkappe versehen. Ob Schwätzer oder Neider: Niemand wird verschont. „Die Narren sind allgegenwärtig: Es gibt keinen Bereich des privaten oder gesellschaftlichen Lebens, der davon ausgenommen ist“, führt Bruno Quast aus. Brant knüpft historisch an die mittelalterliche Figur des Hofnarren an, die allerdings noch Kritik am Herrscher übt. Bei Brant ist nicht mehr der Machthaber, sondern potenziell jeder und jede ein Narr oder eine Närrin. Quast: „Dies deutet auf eine stärkere Moralisierung in der Zeit um 1500 hin.“

    Das Heilmittel gegen Narrentum ist nach Brant Weisheit, die zunächst die Erkenntnis des eigenen närrischen Verhaltens ermögliche. „Auch dies ist wohl zeitlos gültig: Der weise Mensch orientiert sich an Maß und Mitte und hütet sich etwa vor Übertreibungen oder fortgesetzt ausschweifendem Verhalten“, so Germanist Quast. Dies gilt ebenfalls mit Blick auf den Seelenhaushalt: Brant warnt sowohl vor einer übertriebenen Suche nach dem Glück, da auch die Schattenseiten zum Leben gehören, als auch vor zu viel Sorge, denn wer alle Kümmernisse auf einmal tragen will, kann unter der Last nur zusammenbrechen. „Solche Leitlinien finden wir in aktuellen Lebensratgebern wieder. Kapitel zu Tischzuchten, in denen unpassendes Verhalten bei Tisch karikiert wird, erinnern mit ihren Benimmregeln an Knigge-Literatur“.

    Zusammenarbeit mit Albrecht Dürer – Traditionslinien bis zur Graphic Novel

    Eine Besonderheit des „Narrenschiffs“ liegt in der Text-Bild-Komposition: Zu jedem Kapitel gehört ein Holzschnitt, einige fertigte der damals noch unbekannte Albrecht Dürer. Brant steht hier dem Wissenschaftler zufolge zunächst in der mittelalterlichen Tradition, nach der Bilder als „Schrift der Laien“ für ein leseunkundiges Publikum gedacht sind. „Das Verhältnis ist jedoch komplexer“, so Quast. „Teilweise fügt der Text dem Bild etwas hinzu, in anderen Fällen geht die Illustration über den Text hinaus. Das Bild hat somit einen Eigenwert über die bloße Bebilderung des Textes hinaus.“ Hier zeige sich eine Gemeinsamkeit mit der Graphic Novel. „Dort folgt allerdings der Erzählzusammenhang einer narrativen Linie, die Bilder bauen aufeinander auf.“ Das Stilmittel der Übertreibung mit dem Ziel, auf verbesserungswürdige Entwicklungen hinzuweisen, verbindet laut Bruno Quast die spätmittelalterliche Moraldidaktik eines Sebastian Brant mit neuzeitlichen politischen Karikaturen oder Kabarett.

    Auch das aktuell viel diskutierte Thema Wissenschaftsfeindlichkeit wird bereits im vorreformatorischen „Narrenschiff“ verhandelt, wie der Forscher ausführt. In einem der letzten Kapitel klagt Brant, die Wissenschaft werde verachtet, doch „dem Ungebildeten“ werde Gehör geschenkt. Quast: „Brant sieht im zeitgenössischen Umgang mit Wissenstraditionen angesichts einer Überhandnahme von Gedrucktem ein ernstes Problem. Es droht ein Geltungsverlust der Tradition. Diese frühen Einschätzungen aus der Zeit der Erfindung des Buchdrucks eröffnen erstaunliche Parallelen zu aktuellen Diskussionen über zunehmende Zweifel an Forschung und Rationalität aufgrund einer neuen, vor allem durch soziale Netzwerke geprägten Unübersichtlichkeit.“ (apo/vvm)


    Weitere Informationen:

    https://www.uni-muenster.de/Religion-und-Politik/podcastundvideo/Fashion_Victims...


    Bilder

    Prof. Dr. Bruno Quast
    Prof. Dr. Bruno Quast

    Exzellenzcluster "Religion und Politik"


    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten
    Kulturwissenschaften, Philosophie / Ethik, Religion, Sprache / Literatur
    überregional
    Buntes aus der Wissenschaft, Forschungs- / Wissenstransfer
    Deutsch


     

    Prof. Dr. Bruno Quast


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