Forschungsteam hat die menschliche Wahrnehmung von Glanz untersucht – Optische Täuschungen auch bei künstlicher Intelligenz
Menschen mögen glänzende Dinge – den schimmernden Lack eines neuen Autos, einen frischen Nagellack, die Schale einer saftigen Kirsche. In einer internationalen Studie unter der Leitung von Wahrnehmungspsychologinnen und -psychologen der Justus-Liebig-Universität Gießen (JLU) konnte jetzt gezeigt werden, wie unser Gehirn lernt, glänzende Materialien zu sehen. In einem Artikel, der in der Fachzeitschrift „Nature Human Behaviour“ veröffentlicht wurde, präsentieren die Forschenden einen Algorithmus, der mittels Künstlicher Intelligenz lernt, zwischen glänzenden und matten Materialien zu unterscheiden. Dieser Lernprozess läuft – genau wie im Gehirn – in einem nicht überwachten neuronalen Netzwerk ab. Und ähnlich wie das Gehirn lässt sich auch der Algorithmus täuschen und fällt auf Bilder herein, die Objekte glänzender erscheinen lassen als sie eigentlich sind.
Das Forschungsobjekt mag überraschen, da der Unterschied zwischen glänzenden und matten Materialien sehr offensichtlich zu sein scheint. „Aber diese Frage öffnet tatsächlich eine Tür zu einem Rätsel“, sagt JLU-Wissenschaftlerin und Projektleiterin Dr. Katherine Storrs. „Objekte können eine unendliche Vielfalt an Bildern erzeugen, abhängig von den Betrachtungsbedingungen. Irgendwie muss unser Gehirn in der Lage sein, Bilder zu interpretieren, die es noch nie gesehen hat.“
Das Gehirn ist in den meisten Fällen bemerkenswert gut darin, zu erkennen, woraus Objekte bestehen bzw. ob das Material glänzend oder matt ist. Für die Forschung sind aber Situationen besonders spannend, in denen das Gehirn sich täuschen lässt. So kommt es vor, dass unebene Oberflächen glänzender aussehen können, als sie tatsächlich sind. Das Team fand heraus, dass dies auch bei den künstlichen neuronalen Netzwerken der Fall ist.
„Wenn man die meisten neuronalen Netzwerke trainiert, sagt man ihnen zunächst, was sie sehen“, erklärt Dr. Storrs. „Wer möchte, dass das Netzwerk Objekte wie eine Katze oder einen Tisch erkennt, zeigt ihm während des Trainings Millionen von korrekt beschrifteten Beispielen.“ Das Faszinierende an unüberwachten Netzwerken sei, dass sie lernen, wie Bilder strukturiert sind, ohne dass ihnen gesagt wird, was auf den Bildern zu sehen ist. JLU-Wahrnehmungspsychologe Prof. Dr. Roland Fleming ergänzt: „Das macht sie sehr attraktiv als Modelle dafür, wie Menschen und andere Tiere das Sehen lernen könnten.“
Die Forschenden ziehen daraus den Schluss, dass wir unbewusst anhand bestimmter Bildmerkmale lernen, was wir sehen. „Wir lernen Glanzwahrnehmung also nicht, weil uns jemand erklärt, wie Glanz aussieht. Das Sehsystem lernt spontan und automatisch“, betont Fleming. Wichtig sind dabei etwas die Größe und der Kontrast von hellen Punkten in Bildern von glänzenden Oberflächen – Merkmale, die auch in die Irre führen können, wie optische Täuschungen belegen.
Nachdem die künstlichen neuronalen Netze Tausende von Beispielen von Oberflächen mit unterschiedlichen Materialien, Beleuchtungen und Formen gesehen hatten, lernten sie genug über das „Aussehen“ solcher Bilder, um brandneue Beispiele zu erzeugen. „Wir zeigten menschlichen Freiwilligen die gleichen Bilder, die wir den Netzwerken zeigten, und verglichen ihre Wahrnehmung von Glanz“, sagt Prof. Fleming. „Bemerkenswerterweise sagten die unüberwachten Netzwerke nicht nur die breiten Erfolge der menschlichen Materialwahrnehmung voraus. Sie ließen sich auch von denselben Illusionen täuschen.“
Dr. Katherine Storrs und Prof. Dr. Roland Fleming
Allgemeine Psychologie
Otto-Behaghel-Str 10F, 35394 Gießen
E-Mail: katherine.storrs@psychol.uni-giessen.de
roland.fleming@psychol.uni-giessen.de
Storrs, K.R., Anderson, B.L., & Fleming, R.W. (2021) Unsupervised learning predicts human perception and misperception of gloss. Nature Human Behaviour. https://dx.doi.org/10.1038/s41562-021-01097-6
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, Wissenschaftler
Psychologie
überregional
Forschungsergebnisse
Deutsch
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