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06.07.2021 12:00

Okzipitalnerven-Stimulation beim chronischen Cluster-Kopfschmerz

Dr. Bettina Albers Pressestelle der DGN
Deutsche Gesellschaft für Neurologie e.V.

    Eine aktuell in „Lancet Neurology“ publizierte Studie [1] zeigt, dass für Patienten/Patientinnen mit medikamentenresistentem chronischem Cluster-Kopfschmerz die Okzipitalnerven-Stimulation (ONS) eine vielversprechende Behandlungsalternative darstellt. Bei der Hälfte der Patienten/Patientinnen konnte die Häufigkeit der Attacken mit der Elektrostimulation, die einem Herzschrittmacher ähnelt, um mindestens 50% reduziert werden. Fast alle, die an der Studie teilgenommen haben, würden die ONS anderen Betroffenen weiterempfehlen, ungefähr Dreiviertel davon sogar besonders nachdrücklich.

    Der Clusterkopfschmerz ist der häufigste Typ der sogenannten trigemino-autonomen Kopfschmerzen. Die massiven Schmerz-Attacken betreffen meistens dieselbe Seite des Gesichtes im Bereich des Trigeminusnervs der Schläfenregion bzw. des Auges. Ca. 75% der Betroffenen sind Männer. Durch die hohe Intensität beeinträchtigen die Schmerzen die Lebensqualität der Betroffenen stark. Als Akuttherapie haben sich die Inhalation von reinem Sauerstoff sowie die subkutane Gabe von Sumatriptan etabliert. Zur Prophylaxe von Cluster-Kopfschmerz-Attacken empfehlen die Leitlinien den Einsatz von Verapamil. Auch Lithium kann zur Anwendung kommen, allerdings gibt es dazu keine randomisierten Daten. Kortikoide werden häufig zur Kurzzeit-Prophylaxe eingesetzt, um die Zeit bis zum Wirkungseintritt der Prophylaxe wie Verapamil zu überbrücken. Die Wirksamkeit wurde kürzlich in einer deutschen Studie wissenschaftlich belegt [2]. Eine weitere Behandlungsoption bei therapieresistentem Cluster-Kopfschmerz bzw. „MICCH” („medically intractable chronic cluster headache“) ist die Okzipitalnerven-Stimulation (ONS). Dazu wird ähnlich einem Herzschrittmacher ein kleiner elektrischer Impulsgeber unter die Haut implantiert, von dem aus dünne Elektroden zum Nacken, in Richtung der beiden Okzipitalnerven verlaufen. Die Stimulation löst Parästhesien aus (Kribbeln oder Taubheitsgefühl). Als Wirkmechanismus wird eine Modifikation der Schmerzsignale im Hirnstamm durch die elektrischen Signale angenommen. Bisherige Studien zur ONS waren unkontrolliert bzw. open-label und klein (zehn Patientenpopulationen mit insgesamt 274 Patientinnen/Patienten), die Basisdaten waren sehr heterogen und nicht alle primären Endpunkte waren für alle Patientinnen/Patienten verfügbar.

    Nun wurde eine internationale, multizentrische Phase-III-Studie publiziert (Zentren in den Niederlanden, Belgien, Deutschland und Ungarn), die erstmals randomisiert, doppelblind kontrolliert die klinische Wirksamkeit der ONS in einer großen, einheitlich definierten Population evaluierte (2010 bis 2017). Die Patienten waren im Mittel 44±13 Jahre alt und litten seit durchschnittlich sieben Jahren an den Kopfschmerzanfällen. Sie hatten mindestens viermal wöchentlich Attacken und auf mindestens drei Prophylaxe-Medikamente (u. a. Verapamil, Lithium, Methysergid, Topiramat, Gabapentin) nicht angesprochen (oder diese nicht vertragen/Kontraindikationen).

    Zunächst gab es eine Beobachtungsphase über 12 Wochen, dann folgte über 24 Wochen eine ONS, randomisiert in zwei Gruppen mit entweder 100% oder 30% Stimulationsintensität von der zuvor individuell ermittelten Skala zwischen Parästhesie-Schwelle und maximal tolerierter Stromstärke (doppelblinde Phase; n=65 in der 100%-ONS-Gruppe und n=66 in der 30%-ONS-Gruppe). Ein doppelblinder Vergleich versus Placebo (d. h. Implantation, aber ohne Stimulation) wäre nicht praktikabel, da die Stimulation oft von den Patienten erkannt wird. Danach, in den Wochen 25-48, wurde mit individuell optimierten ONS-Dosierungen weiter stimuliert (open-label Phase). Der primäre Endpunkt war die wöchentliche Attackenfrequenz (in Woche 21-24) verglichen mit den Anfangshäufigkeiten. Die bisherige Nachbeobachtungszeit beträgt zwei Jahre.

    Im Gesamtergebnis führten beide Stimulationsprotokolle zu einer schnellen und anhaltenden Verringerung der Attackenhäufigkeit um durchschnittlich 50%, die Schmerzintensität nahm um ein Drittel ab. Die wöchentliche Anfallsfrequenz zu Studienbeginn lag bei median 15,75 (IQR 9,44-24,75) und sank bis Woche 24 auf 7,38 (IQR 2,5-18,5): In der 100%-Gruppe von median 17,58 (9,83 bis 29,33) auf 9,5 (3,0-21,25) und in der 30%-Gruppe von 15,0 (9,25-22,33) auf 6,75 (1,5-16,5). Der mediane Gruppenunterschied der mittleren wöchentlichen Anfallsfrequenz am Ende der maskierten Phase (Wochen 21-24) betrug -2,42 (-5,17 bis -3,33). In der verblindeten Studienphase kam es in der 100%-Gruppe zu 129 unerwünschten Ereignissen und in der 30%-Gruppe zu 95 Ereignissen. Keines dieser Ereignisse war ungewöhnlich, 17/129 bzw. 8/95 Ereignisse wurden kurzzeitig stationär behandelt; meist handelte es sich um lokale Schmerzen, gestörte Wundheilung, Nackensteifigkeit und Hardware-Probleme. Insgesamt war die ONS sicher und gut verträglich. Auf Befragung würden über 90% der Teilnehmerinnen/Teilnehmer beider Gruppen die Therapie anderen MICCH-Patienten/-Patientinnen empfehlen.

    Beide elektrischen ONS-Intensitäten lösten ähnlich starke Begleitparästhesien aus und zeigten interessanterweise eine ähnliche Wirksamkeit. „Möglicherweise gibt es also eine gewisse Effektivitäts-Schwelle, ab der die Wirkung eintritt – und keine lineare Dosis-Wirkungs-Beziehung“, kommentiert Prof. Dr. Hans-Christoph Diener, DGN-Pressesprecher. „Ein gewisser Placeboeffekt kann nicht ausgeschlossen werden, da keine echte Placebo-Behandlung möglich ist, denn eine Null-Stimulation wird oft vom Patienten bemerkt.“ In dieser Studie hatten nach 24 Wochen 61% der Patienten ihre Gruppenzugehörigkeit richtig erkannt.

    „Das Verfahren stellt eine mögliche Alternative für Patientinnen und Patienten mit medikamentenresistentem Cluster-Kopfschmerz dar“, erklärt Prof. Dr. Peter Berlit. „Dies ist auch unter dem Aspekt möglicher Nebenwirkungen der medikamentösen Therapie relevant. Die Erforschung von Stimulationstherapien bleibt ein Zukunftsfeld der neurologischen Forschung. Der Eingriff sollte aber nur in neurochirurgischen Kliniken erfolgen, die mit dieser Methode umfangreiche Erfahrung haben.“

    Literatur
    [1] Wilbrink LA, de Coo IF, Doesborg PGG et al. Safety and efficacy of occipital nerve stimulation for attack prevention in medically intractable chronic cluster headache (ICON): a randomised, double-blind, multicentre, phase 3, electrical dose-controlled trial. Lancet Neurol 2021 Jul; 20 (7): 515-525 doi: 10.1016/S1474-4422(21)00101-0.
    [2] Obermann M, Nägel S, Ose C et al. Safety and efficacy of prednisone versus placebo in short-term prevention of episod-ic cluster headache: a multicentre, double-blind, randomised controlled trial. Lancet Neurol 2021; 20 (1): 29-37. doi: 10.1016/S1474-4422(20)30363-X. Epub 2020 Nov 24

    Pressekontakt
    Pressestelle der Deutschen Gesellschaft für Neurologie
    c/o Dr. Bettina Albers, albersconcept, Jakobstraße 38, 99423 Weimar
    Tel.: +49 (0)36 43 77 64 23
    Pressesprecher: Prof. Dr. med. Hans-Christoph Diener, Essen
    E-Mail: presse@dgn.org

    Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie e.V. (DGN)
    sieht sich als wissenschaftliche Fachgesellschaft in der gesellschaftlichen Verantwortung, mit ihren über 10.000 Mitgliedern die neurologische Krankenversorgung in Deutschland zu sichern und zu verbessern. Dafür fördert die DGN Wissenschaft und Forschung sowie Lehre, Fort- und Weiterbildung in der Neurologie. Sie beteiligt sich an der gesundheitspolitischen Diskussion. Die DGN wurde im Jahr 1907 in Dresden gegründet. Sitz der Geschäftsstelle ist Berlin. www.dgn.org

    Präsident: Prof. Dr. med. Christian Gerloff
    Stellvertretender Präsident: Prof. Dr. Gereon R. Fink
    Past-Präsidentin: Prof. Dr. med. Christine Klein
    Generalsekretär: Prof. Dr. Peter Berlit
    Geschäftsführer: Dr. rer. nat. Thomas Thiekötter
    Geschäftsstelle: Reinhardtstr. 27 C, 10117 Berlin, Tel.: +49 (0)30 531437930, E-Mail: info@dgn.org


    Originalpublikation:

    doi: 10.1016/S1474-4422(21)00101-0.


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten
    Medizin
    überregional
    Forschungs- / Wissenstransfer, Wissenschaftliche Publikationen
    Deutsch


     

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