idw – Informationsdienst Wissenschaft

Nachrichten, Termine, Experten

Grafik: idw-Logo
Science Video Project
idw-Abo

idw-News App:

AppStore

Google Play Store



Instanz:
Teilen: 
11.08.2021 13:40

Kritische Selbstbefragung liberaler Demokratien

Sebastian Hollstein Abteilung Hochschulkommunikation/Bereich Presse und Information
Friedrich-Schiller-Universität Jena

    Internationales Forschungsteam untersucht illiberale Demokratien in Ostmitteleuropa. Die Volkswagenstiftung unterstützt das internationale Projekt „Towards Illiberal Constitutionalism in East Central Europe: Historical Analysis in Comparative and Transnational Perspectives“ für vier Jahre mit knapp 1,5 Mio. Euro.

    Das Wort „illiberal“ lässt sich nach einem westlich geprägten Politikverständnis nur schwer mit einer Demokratie verbinden. Vielmehr gilt individuelle Freiheit heutzutage als ein Grundelement dieser Regierungsform. In einigen Ländern Ostmitteleuropas haben sich hingegen inzwischen Regierungen etabliert, die ganz offensiv eine illiberale Version als eine eigene Spielart der Demokratie propagieren und die jeweiligen Staaten entsprechend verändern – allen voran Polen und Ungarn. Welches Verfassungsverständnis liegt dem zugrunde? Auf welchen Traditionslinien baut es auf? Und was bedeutet das für den gesamten Kontinent? Antworten auf diese Fragen wollen Osteuropa-Experten der Friedrich-Schiller-Universität Jena gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen von Universitäten in Erfurt, Budapest und Warschau sowie der Tschechischen Akademie der Wissenschaften in Prag erforschen. Die Volkswagenstiftung unterstützt das internationale Projekt „Towards Illiberal Constitutionalism in East Central Europe: Historical Analysis in Comparative and Transnational Perspectives“ im Rahmen ihres Förderangebots „Herausforderungen für Europa“ über die kommenden vier Jahre mit knapp 1,5 Mio. Euro. Neben Historikerinnen und Historikern sind Forschende aus der Soziologie sowie der Rechts- und Politikwissenschaft beteiligt.

    Die politische Ordnung wird zur Fassade

    „Wir konzentrieren uns auf die Frage des Konstitutionalismus – also der Verfassungsordnung und wie Debatten über sie in den jeweiligen Ländern während ihrer Entstehungszeit Anfang der 1990er Jahre geführt wurden und heute weiterhin geführt werden“, erklärt Prof. Dr. Joachim von Puttkamer von der Universität Jena. „Aktuell können wir beobachten, dass sich aus der alltäglichen Verfassungspraxis verschiedene Interpretationen darüber, was Konstitutionalismus überhaupt bedeutet, herausgebildet haben, was durchaus zu einem Substanzverlust geführt hat. Die politische Ordnung wird zu einer Fassade, hinter der sich Prozesse abspielen, die zwar mit den Buchstaben der Verfassung noch zu tun haben, aber nicht mehr mit den Ideen, die damit ursprünglich verbunden sind.“

    Im Hinblick auf sich in ganz Europa ausbreitende antidemokratische und populistische Tendenzen wollen die Forschenden wissen, ob es sich dabei nur um eine irgendwie spezifisch osteuropäische Deformation oder um eine Grundherausforderung aus dem Kernbereich unseres Demokratieverständnisses handelt. „Insofern ist diese Forschung immer auch eine wichtige kritische Selbstbefragung liberaler Demokratien“, sagt der Jenaer Historiker.

    Aus dem Scheitern lernen

    Prof. von Puttkamer analysiert im Rahmen des Projekts die Vorstellungen von Rechtsstaatlichkeit und einer unabhängigen Justiz kurz nach dem Fall des Eisernen Vorhangs in den ostmitteleuropäischen Ländern. Dabei wirft er insbesondere einen Blick in die Zeit zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg, in der sich – ähnlich wie in Deutschland – erste Demokratien entwickelt haben, von denen man früher – in Ungarn bereits 1918 – oder später – in der Tschechoslowakei erst 1938 – wieder abgekehrt ist. Inwieweit diese ersten demokratischen Erfahrungen in die neuen Landesverfassungen und Verfassungspraktiken nach dem Sturz der kommunistischen Regime einflossen und möglicherweise traditionsbildend wirkten, das interessiert Joachim von Puttkamer besonders. Denn für Länder wie Polen, die Tschechische Republik oder Ungarn gibt es dazu bisher kaum Erkenntnisse – erst der Abstand von 30 Jahren, der die Geschehnisse als Teil der jüngsten Zeitgeschichte einordnet, öffnet nun neue Blickwinkel und die Archive. „In Deutschland haben wir die normative Beobachtung gemacht, dass man sich – um eine funktionierende Demokratie aufzubauen – damit auseinandersetzen muss, warum frühere Anläufe gescheitert sind. Das wurde in den 1970er und 1980er Jahren in der Bundesrepublik auch ausführlich getan“, erklärt der Co-Direktor des Jenaer Imre Kertész Kollegs. „Aus dem aktuellen Umgang mit der Weimarer Republik lernen wir zudem, dass Demokratie auch ein Bedürfnis nach positiven Anknüpfungspunkten historischer Erinnerung braucht und nicht nur die Mahnung durch frühes Scheitern.“

    Eine weitere Fallstudie innerhalb des Projektes beschäftigt sich mit der Ausdeutung von Gesetzlichkeit und Rechtsstaatlichkeit in Polen und in den neuen Bundesländern. Ein Historiker in Erfurt untersucht, wie diese ostmitteleuropäischen Erfahrungen für das Verständnis von Prozessen in der ehemaligen DDR dienen können. Eine ungarische Juristin untersucht aus rechtswissenschaftlicher Perspektive, wie illiberale Praktiken in Ungarn im westeuropäischen Vergleich zusehends Akzeptanz finden. Und von Puttkamers Kollege in Prag erforscht, wie Debatten über Verrechtlichung und Expertentum das eher managementorientierte Verständnis von Demokratie in der Tschechischen Republik geprägt haben.

    Das neue Projekt soll insbesondere dazu beitragen, dass sich junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler miteinander vernetzen können, um Forschungen dieser Art in Zukunft auf ein breiteres länderübergreifendes Fundament zu stellen, in dem nicht zuletzt das Imre Kertész Kolleg der Universität Jena eine tragende Rolle einnehmen wird.


    Wissenschaftliche Ansprechpartner:

    Prof. Dr. Joachim von Puttkamer
    Imre Kertész Kolleg der Universität Jena
    Am Planetarium 7, 07743 Jena
    Tel.: 03641 / 944070
    E-Mail: joachim.puttkamer@uni-jena.de


    Bilder

    Prof. Dr. Joachim von Puttkamer von der Universität Jena untersucht im Rahmen eines neuen Projekts die Frage des Konstitutionalismus in Osteuropa.
    Prof. Dr. Joachim von Puttkamer von der Universität Jena untersucht im Rahmen eines neuen Projekts d ...
    Foto: Anne Günther/Uni Jena


    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten
    Geschichte / Archäologie, Gesellschaft, Politik, Recht
    überregional
    Forschungsprojekte
    Deutsch


     

    Prof. Dr. Joachim von Puttkamer von der Universität Jena untersucht im Rahmen eines neuen Projekts die Frage des Konstitutionalismus in Osteuropa.


    Zum Download

    x

    Hilfe

    Die Suche / Erweiterte Suche im idw-Archiv
    Verknüpfungen

    Sie können Suchbegriffe mit und, oder und / oder nicht verknüpfen, z. B. Philo nicht logie.

    Klammern

    Verknüpfungen können Sie mit Klammern voneinander trennen, z. B. (Philo nicht logie) oder (Psycho und logie).

    Wortgruppen

    Zusammenhängende Worte werden als Wortgruppe gesucht, wenn Sie sie in Anführungsstriche setzen, z. B. „Bundesrepublik Deutschland“.

    Auswahlkriterien

    Die Erweiterte Suche können Sie auch nutzen, ohne Suchbegriffe einzugeben. Sie orientiert sich dann an den Kriterien, die Sie ausgewählt haben (z. B. nach dem Land oder dem Sachgebiet).

    Haben Sie in einer Kategorie kein Kriterium ausgewählt, wird die gesamte Kategorie durchsucht (z.B. alle Sachgebiete oder alle Länder).