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31.08.2021 11:12

Tödliches Nichtstun: Wenn Staaten nicht handeln

Dr. Margareta Bögelein Pressestelle
Hochschule Coburg

    Klimawandel, Flucht und Tod im Mittelmeer – die Diskussionen darüber erweitert Prof. Dr. Eckardt Buchholz-Schuster von der Hochschule Coburg um eine rechtsethische Perspekti-ve: Kann Untätigkeit von Staaten oder Staatengemeinschaften extremes, inakzeptables Unrecht sein?

    In Michigan tritt ein Mann aufs Gaspedal seines Pickups. In Südspanien versiegt ein Brunnen. In Niederbayern tritt ein Fluss übers Ufer. In Coburg beschließt eine Schülerin, ihr altes Smartphone zu entsorgen, und in einer chinesischen Fabrik wird ein neues Smartphone ver-packt. In Burundi verhungert ein Kind. „Es gibt da keine direkte Kausalkette“, sagt Eckardt Buchholz-Schuster. „Ein bestimmtes Opfer des Klimawandels lässt sich nicht ursächlich auf einen individuellen CO2-Ausstoss zurückführen.“ Das ändert aber nichts daran, dass jede individuelle Emission Auswirkungen hat. Die Emissionen summieren sich. Sie verursachen weltweit Wetterextreme mit oft lebensbedrohlichen Folgen.

    Buchholz-Schuster forscht und lehrt an der Fakultät Soziale Arbeit und Gesundheit der Hoch-schule Coburg zu juristischen Perspektiven der Sozialen Arbeit, zu Werten und Normen sowie rechtsphilosophischen und -theoretischen Grundlagen. „Die Soziale Arbeit ist von Haus aus eine Menschenrechtsprofession“, sagt der Professor. Er hat analysiert, inwiefern Staaten aus rechtsethischer Perspektive zu extremem, nicht tolerierbarem Unrecht beitragen, wenn sie nichts oder zu wenig unternehmen. „Als individuelle Unrechtskategorie ist Unterlassen in un-serem Strafrecht fest verankert: Wenn Sie beispielsweise zu einem Verkehrsunfall kommen und nichts tun, sind Sie womöglich wegen unterlassener Hilfeleistung dran.“ Was aber gilt für Staaten?

    Extremes, unerträgliches Unrecht

    Buchholz-Schuster beleuchtet das Thema staatlicher Unterlassungen auch in internationalem Kontext aus rechtsphilosophischer Sicht. Ein eher ungewöhnlicher Ansatz in der von politi-schen Interessen, aber auch von unterschiedlichen juristischen Schlussfolgerungen geprägten Diskussion. Nationale Gesetze überlagern internationale Gesetze; teilweise mit widersprüchli-chen Ergebnissen. Aber Konflikte zwischen Rechtssicherheit und Gerechtigkeit sind nicht neu. „Als Lösungsansatz wurde nach 1945 die sogenannte Radbruch‘sche Formel populär.“ Sie half, NS-Verbrechen aber auch Todesschüsse an der innerdeutschen Grenze im Nach-hinein zu beurteilen. Zur Tatzeit entsprachen sie formal dem Gesetz – aber durch das Zu-sammenspiel mehrerer ungerechter Faktoren entstand unerträgliches Unrecht. Und extremes Unrecht kann gemäß der Radbruch‘schen Formel niemals durch Gesetze legitimiert werden. Verschiedene Täter wurden später vor Gericht bestraft.

    Wie untätige Zeugen am Straßenrand

    Aktiv begangene Verbrechen gegen die Menschlichkeit waren typisch für extremes staatli-ches Unrecht im 20. Jahrhundert. „Im 21. Jahrhundert erleben wir im Gegensatz dazu oft eine starke Passivität von Staaten und Staatengemeinschaften gegenüber grenzüberschreitenden Herausforderungen.“ Nichtstun, das oft tödlich endet. Aber ist das extrem ungerecht? Buch-holz-Schuster zeigt auf, inwieweit extremes Unrecht verlässlich zu erfassen ist und erklärt, wie Untätigkeit nach der Radebruch‘schen Formel bewertet werden kann: „Die verschiede-nen Einflussfaktoren müssen möglichst konkret auf empirischer Grundlage beschrieben wer-den.“ Er zählt Beispiele im Bereich des menschengemachten Klimawandels auf. Die Länder der südlichen Erdhalbkugel, die am wenigsten zur Erderwärmung beigetragen haben, leiden am meisten unter Überschwemmungen, Hurrikans oder andernorts unter Hitze und Dürre. „Ein weiterer Faktor ist, dass der Klimawandel ab einem bestimmten Punkt unkontrollierbare und unumkehrbare Folgen hat, die heute nicht absehbar sind.“ Jeder Staat könnte einen eige-nen Beitrag dazu leisten, dass fundamentale Menschenrechte nicht durch ein „Weiter wie bisher“ verletzt werden. Aber die wohlhabenden Länder bleiben bislang oft passiv. Ähnlich den Zeugen oder gar Mitverursachern eines schweren Verkehrsunfalls, die es unterlassen, zu helfen.

    Seenot auf Flüchtlingsrouten

    Buchholz-Schuster stellte das bei verschiedenen Herausforderungen von internationaler Di-mension fest. Bei einer Meldung über ein im Mittelmeer gekentertes Flüchtlingsboot mit zahl-losen ertrunkenen Menschen dachte er: „Wie oft will ich mir das noch anhören, ohne etwas zu tun?“ Aber was? Er ist Jurist, Rechtsphilosoph, kein Aktivist. Also analysierte er. Und er schrieb: eine Kurzmonografie über extremes staatliches Unrecht durch Unterlassen am Bei-spiel von Seenot auf Flüchtlingsrouten und Klimawandel. Er regt an, rechtsethische Konzepte wie die Radbruch‘sche Formel auch und gerade für diesbezügliche öffentliche Diskurse als rationalen Kompass zu nutzen. In der Vergangenheit wurden sie von Gerichten auf erlassene Gesetze angewandt, aber Buchholz-Schuster sieht das Problem aktuell vor allem in fehlen-den und unzureichenden Gesetzen, in Rechtszersplitterung und einem damit einhergehenden ethischen und rechtlichen Vakuum: „Gerichte allein können es nicht richten“.
    Erschienen ist die Kurzmonografie unter dem Titel „Extreme Wrong Committed by National and Supranational Inactivity“. Auf Englisch, weil der Wissenschaftler sich eine breitere rechts-ethische Diskussion über den deutschsprachigen Raum hinaus wünscht. „Auch als normative Orientierungshilfe für die Politik.“

    Zum Buch:
    Eckardt Buchholz-Schuster: Extreme Wrong Committed by National and Supranational Inac-tivity: Analyzing the Mediterranean Migrant Crisis and Climate Change from a Legal Philoso-phical Perspective. 56 Seiten, Göttingen 2021, 24,90 Euro (Print), 17,90 Euro (E-Book)

    Text: Natalie Schalk


    Bilder

    Die EU hat ihre Marinemission „Sophia“ ausgesetzt, die Staatengemeinschaft tut nichts dagegen, dass Migranten in Seenot geraten. Ist staatliches Unterlassen extremes Unrecht? Foto: Aude-Andre Saturnio / Unsplash
    Die EU hat ihre Marinemission „Sophia“ ausgesetzt, die Staatengemeinschaft tut nichts dagegen, dass ...
    Aude-Andre Saturnio / Unsplash
    CC


    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten, Lehrer/Schüler, Studierende, Wirtschaftsvertreter, Wissenschaftler, jedermann
    Gesellschaft, Meer / Klima, Philosophie / Ethik, Politik, Recht
    überregional
    Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
    Deutsch


     

    Die EU hat ihre Marinemission „Sophia“ ausgesetzt, die Staatengemeinschaft tut nichts dagegen, dass Migranten in Seenot geraten. Ist staatliches Unterlassen extremes Unrecht? Foto: Aude-Andre Saturnio / Unsplash


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