idw – Informationsdienst Wissenschaft

Nachrichten, Termine, Experten

Grafik: idw-Logo
Science Video Project
idw-Abo

idw-News App:

AppStore

Google Play Store



Instanz:
Teilen: 
09.09.2021 14:09

Deutschland auf dem Weg in eine Politik der Lügen?

Tanja Eisenach Dezernat Kommunikation
Otto-Friedrich-Universität Bamberg

    Studie der Universität Bamberg: Etwa die Hälfte der Befragten sieht sich als Teil einer postfaktischen Demokratie.

    Politikerinnen und Politiker hören immer wieder die Unterstellung, dass sie lügen – auch aktuell im Bundestagswahlkampf. Erstmals hat eine Studie der Universität Bamberg untersucht, wie verbreitet postfaktische Annahmen in der deutschen Politik und im Journalismus sind. „In einer postfaktischen Politik werden Fakten und ein Wahrheitsbezug zunehmend unwichtiger“, erläutert Kommunikationswissenschaftler Prof. Dr. Olaf Hoffjann von der Universität Bamberg. „Dies ist in Deutschland empirisch bislang kaum erforscht. Auch weltweit liegen hierzu nur wenige empirische Befunde vor.“ Deshalb haben er und Lucas Seeber vom Institut für Kommunikationswissenschaft eine Umfrage durchgeführt. Ein zentrales Ergebnis der bislang unveröffentlichten Studie ist, dass sich rund die Hälfte der Befragten als Teil einer postfaktischen Demokratie sieht. Zugleich erwarten mehr als 90 Prozent eine Politik, die ernsthaft, aufrichtig und mit Wahrheitsanspruch auftritt.

    Bewusste Täuschung gilt als kritikwürdig

    Die beiden Kommunikationswissenschaftler haben von Oktober 2020 bis Januar 2021 insgesamt 758 Personen aus drei Gruppen online befragt: Bundestags- und Landtagsabgeordnete, Pressesprecherinnen und -sprecher sowie Journalistinnen und Journalisten. Die Auswertung der Umfrage hat insbesondere zu folgenden Ergebnissen geführt:

    1. Die Befragten unterstellen Politikerinnen und Politikern selten Lügen (15 Prozent). Überraschend: Politiker unterstellen anderen Politikern häufiger (21,8 Prozent) Lügen, als dies deren Pressesprecher (5,1 Prozent) und sogar Journalisten tun (14,3 Prozent). Nur 1,2 Prozent denken, dass Lügen in der Politik legitim sind. Dagegen halten rund 32 Prozent sogenannten „Bullshit“ – das Ergänzen von ungeprüften Aussagen, die wahr sein könnten, um die These einer Aussage zu unterstützen – für weit verbreitet. Rund 5 Prozent der Befragten halten „Bullshit“ für legitim. Die Übertreibung in der Politik wird als weit verbreitet (rund 78 Prozent) und gleichzeitig von rund einem Drittel (33,8 Prozent) als eher legitim beschrieben. Olaf Hoffjann interpretiert: „Die bewusste Täuschung gilt offenbar als kritikwürdiger als ein gleichgültiges Verhältnis gegenüber der Wahrheit.“

    2. 50,8 Prozent der Befragten sehen sich als Teil einer postfaktischen Demokratie. Das heißt, sie unterstellen Politikerinnen und Politikern, dass ihnen der Wahrheitsgehalt ihrer Aussagen eher unwichtig sei. Von den drei befragten Gruppen glauben vor allem Politikerinnen und Politiker nicht an eine faktische Politik (rund 55 Prozent). „Pointiert formuliert: Journalistinnen und Journalisten glauben eher an den Wahrheitsgehalt der Aussagen von Politikerinnen und Politikern als diese selbst“, sagt Lucas Seeber.

    3. Mehr als neun von zehn Befragten verurteilen Lügen und „Bullshit“ (rund 94 Prozent). Akteure, die Emotionalisierung sowie Lügen und Bullshit als eher nicht legitim bezeichnen werden in der Studie als „faktische Akteurinnen und Akteure“ bezeichnet.

    4. Fast alle Vertreterinnen und Vertreter der AfD glauben an eine postfaktische Politik (88,9 Prozent) – mit Abstand der höchste Anteil unter den Befragten. Zugleich halten auch 90 Prozent der AfD-Befragten Lügen, „Bullshit“ und Emotionalisierung für eher nicht legitim.

    Wahrheitskrise in der Politik wird verurteilt

    „Die Ergebnisse zeigen insgesamt, dass eine knappe Mehrheit von Abgeordneten und Journalistinnen oder Journalisten eine Wahrheitskrise in der Politik wahrnimmt“, interpretiert Olaf Hoffjann. „Aber eine sehr deutliche Mehrheit verurteilt dies. Mit anderen Worten: Fast alle Befragten, die sich als Bürgerinnen und Bürger einer postfaktischen Politik sehen, sind darüber nicht glücklich.“ Wie aber reagieren Politikerinnen und Politiker, die der Konkurrenz unterstellen, sie würde unrechtmäßige Methoden einsetzen? „Untersuchungen in anderen Betrugsfeldern argumentieren spieltheoretisch, dass dies dazu führen könne, dass auch andere zu solchen Methoden greifen, um ‚Waffengleichheit‘ herzustellen“, erklärt Olaf Hoffjann. „Und dennoch: Das überwältigende Ausmaß, mit dem Praktiken wie Lüge und ‚Bullshit‘ abgelehnt werden, stimmt mich optimistisch.“

    Befragt wurden insgesamt 758 Abgeordnete des Bundestages und aller Landtage, Mitglieder der Bundespressekonferenz und aller Landespressekonferenzen sowie Pressesprecherinnen und -sprecher von Parteien, Fraktionen und Ministerien auf Bundes- und Landesebene. Die Umfragedaten nähern sich an die realen Verhältnisse an, können streng genommen jedoch nicht als repräsentativ gelten.

    Weitere Informationen und detaillierte Ergebnisse erhalten Sie auf Anfrage von den Forschenden.


    Wissenschaftliche Ansprechpartner:

    Prof. Dr. Olaf Hoffjann
    Professor für Kommunikationswissenschaft, insbesondere Organisationskommunikation und Öffentlichkeitsarbeit
    olaf.hoffjann@uni-bamberg.de

    Lucas Seeber
    Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Kommunikationswissenschaft
    lucas.seeber@uni-bamberg.de

    Hinweis: Derzeit sind die Ansprechpartner ausschließlich per Mail erreichbar. Sie melden sich aber gerne zeitnah bei Ihnen!


    Bilder

    Kommunikationswissenschaftler Olaf Hoffjann leitet die Studie zu postfaktischen Annahmen.
    Kommunikationswissenschaftler Olaf Hoffjann leitet die Studie zu postfaktischen Annahmen.

    Universität Bamberg


    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten, jedermann
    Gesellschaft, Medien- und Kommunikationswissenschaften, Politik
    überregional
    Forschungsergebnisse, Forschungsprojekte
    Deutsch


     

    Kommunikationswissenschaftler Olaf Hoffjann leitet die Studie zu postfaktischen Annahmen.


    Zum Download

    x

    Hilfe

    Die Suche / Erweiterte Suche im idw-Archiv
    Verknüpfungen

    Sie können Suchbegriffe mit und, oder und / oder nicht verknüpfen, z. B. Philo nicht logie.

    Klammern

    Verknüpfungen können Sie mit Klammern voneinander trennen, z. B. (Philo nicht logie) oder (Psycho und logie).

    Wortgruppen

    Zusammenhängende Worte werden als Wortgruppe gesucht, wenn Sie sie in Anführungsstriche setzen, z. B. „Bundesrepublik Deutschland“.

    Auswahlkriterien

    Die Erweiterte Suche können Sie auch nutzen, ohne Suchbegriffe einzugeben. Sie orientiert sich dann an den Kriterien, die Sie ausgewählt haben (z. B. nach dem Land oder dem Sachgebiet).

    Haben Sie in einer Kategorie kein Kriterium ausgewählt, wird die gesamte Kategorie durchsucht (z.B. alle Sachgebiete oder alle Länder).