Ist das Standardmodell der Teilchenphysik an zentralen Punkten nicht korrekt? In jüngster Zeit mehren sich experimentelle Beobachtungen, die von den Vorhersagen dieser weithin akzeptierten physikalischen Theorie abweichen. Eine aktuelle Studie der Universität Bonn liefert nun noch stärkere Hinweise auf die Existenz einer „neuen Physik“. Die finale Version der Arbeit ist nun in der Fachzeitschrift Physics Letters B erschienen. Erstautor Chien-Yeah Seng wird die Ergebnisse Mitte Oktober auf der Herbsttagung der US-amerikanischen Physikalischen Gesellschaft präsentieren.
Das Standardmodell der Teilchenphysik beschreibt die Bausteine, aus denen die Welt zusammengesetzt ist - wir Menschen, die Sandkörner am Strand, das Meereswasser, in dem wir uns abkühlen, aber auch die Sonne, die auf uns niederbrennt. Außerdem erklärt das Modell, welche Kräfte zwischen diesen Elementarteilchen wirken, und erlaubt es, viele physikalische Phänomene zu verstehen.
„Es gibt allerdings auch Fragen, die diese Theorie nicht beantworten kann“, erklärt Dr. Chien-Yeah Seng, Postdoktorand am Helmholtz-Institut für Strahlen- und Kernphysik der Universität Bonn. „So gehen die meisten Forscherinnen und Forscher davon aus, dass 95 Prozent unseres Universums aus dunkler Materie und dunkler Energie bestehen, die wir mit unseren Messinstrumenten nicht direkt nachweisen können. Aus dem Standardmodell lässt sich die Existenz dieser mysteriösen Komponenten aber nicht herleiten.“
Viele Forschende gehen daher davon aus, dass das Standardmodell noch nicht der Weisheit letzter Schluss ist, sondern ergänzt oder sogar grundlegend verändert werden muss. In diese Richtung deuten auch immer mehr experimentelle Befunde, etwa die zum Zerfall der sogenannten Kaonen. Diese Teilchen sind ein Bestandteil der kosmischen Strahlung, die von Sternen und Galaxien ausgeht. Sie sind nicht stabil, sondern zerfallen im Schnitt nach wenigen Milliardstel Sekunden.
Kleine Diskrepanz zwischen Messung und Theorie
Ein Parameter des Standardmodells namens Vus beschreibt diesen Zerfall. Sein Wert lässt sich aus den Messdaten von Experimenten rechnerisch extrahieren. Wenn man das jedoch für verschiedene Zerfallswege von Kaonen macht, so erhält man unterschiedliche Ergebnisse für Vus. „Das könnte ein Hinweis von Physik jenseits des Standardmodells sein“, führt Seng aus.
Ganz sicher ist es aber nicht. Denn grundsätzlich gibt es drei mögliche Gründe für diese Diskrepanz: Ersten können die Messungen in den Experimenten falsch oder zu ungenau sein. Zweitens ist vielleicht die Berechnung der relevanten Zerfälle im Rahmen des Standardmodells nicht präzise genug. Oder, drittens, das Standardmodell ist an diesem Punkt tatsächlich unzutreffend. „Die erste Erklärung gilt inzwischen als unwahrscheinlich“, betont Prof. Dr. Ulf Meißner vom Helmholtz-Institut. „Zum einen ist es heute immer exakter möglich, Vus experimentell zu bestimmen. Zum anderen wurden diese Messungen inzwischen schon viele Male wiederholt.“
Ist die Theorie falsch? Oder ist die Berechnung zu ungenau?
Unklar ist bislang aber noch, ob die Berechnungen der Zerfälle im Rahmen des Standardmodelles zur Extraktion von Vus präzise genug sind. Denn diese zu kalkulieren, ist nur näherungsweise möglich, und das auch nur unter Einsatz extrem leistungsfähiger Supercomputer. Selbst die schnellsten Rechner wären momentan zudem Jahrzehnte beschäftigt, um eine genügend hohe Rechengenauigkeit zu erzielen. „Wir benötigen aber eine hohe Genauigkeit, um ausreichend sicher sein zu können, dass die Diskrepanz zwischen den Vus-Werten tatsächlich auf einen Fehler im Standardmodell hindeutet“, betont Seng.
Der Nachwuchswissenschaftler aus Malaysia hat nun zusammen mit Kollegen eine Methode entwickelt, durch die sich die Rechenzeit entscheidend verkürzen lässt. „Dazu haben wir das Problem - die genaue Extraktion von Vus - in viele einfacherer Teilprobleme zerlegt“, sagt er. „Dadurch war es möglich, den Wert von Vus erheblich schneller und exakter als bislang aus Kaon-Zerfällen zu bestimmen.“
Hinweise auf eine „neue Physik“ verdichten sich
Die Ergebnisse bestätigen die Diskrepanz zwischen den Vus-Werten. Die Hinweise auf eine „neue Physik“ jenseits des Standardmodells haben sich daher verdichtet. „Ganz sicher können wir allerdings noch nicht sein“, sagt Seng, der seine Ergebnisse Mitte Oktober auf der Herbsttagung der US-amerikanischen Physikalischen Gesellschaft präsentieren wird. „Dazu müssen unsere Berechnungen noch etwas genauer werden. Wenn sich unsere Ergebnisse aber bestätigen, wäre das sicher einer der wichtigsten Befunde der letzten Jahre in der Teilchenphysik.“
Beteiligte Institutionen und Förderung:
An der Studie waren auch Forschende des Helmholtz-Instituts in Mainz beteiligt. Sie wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die National Natural Science Foundation in China, die chinesische Academy of Sciences, die Humboldt-Stiftung und die Volkswagen-Stiftung gefördert.
Dr. Chien Yeah Seng
Helmholtz-Institut für Strahlen- und Kernphysik der Universität Bonn
Tel. 0228/73-3004
E-Mail: cseng@hiskp.uni-bonn.de
Prof. Dr. Ulf-G. Meißner
Helmholtz-Institut für Strahlen- und Kernphysik der Universität Bonn
Tel. 0228/73-2365
E-Mail: meissner@hiskp.uni-bonn.de
Chien-Yeah Seng, Daniel Galviz, Mikhail Gorchtein und Ulf-G. Meißner: High-precision determination of the Ke3 radiative corrections. Physics Letters B, https://doi.org/10.1016/j.physletb.2021.136522
Prof. Dr. Ulf-G. Meißner (links) und Dr. Chien Yeah Seng (rechts) vom Helmholtz-Institut für Strahle ...
Foto: Volker Lannert/Uni Bonn
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, jedermann
Physik / Astronomie
überregional
Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
Deutsch
Prof. Dr. Ulf-G. Meißner (links) und Dr. Chien Yeah Seng (rechts) vom Helmholtz-Institut für Strahle ...
Foto: Volker Lannert/Uni Bonn
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