Bewohner*innen von stationären Alten- und Pflegeeinrichtungen sind durch COVID-19 besonders gefährdet. Aber auch ihre strikte Isolierung von der Außenwelt ist problematisch. Umso wichtiger ist es zu wissen, welche Maßnahmen Ausbrüche in solchen Einrichtungen wirklich verhindern können. Ein aktueller Cochrane Review findet nur wenig stichhaltige Evidenz zu dieser kritischen Frage. Immerhin deutet die Studienlage darauf hin, dass eine Reihe von Maßnahmen, beispielsweise regelmäßige Testungen von Bewohner*innen und Personal, von Nutzen sein können.
Stationäre Pflegeeinrichtungen sind in doppelter Weise besonders von der COVID-19-Pandemie betroffen. Denn starke lokale Ausbrüche passieren hier besonders leicht. Gleichzeitig haben die Bewohner*innen ein besonders hohes Risiko für schwere Krankheitsverläufe. Tatsächlich traten in den meisten westlichen Länder bisher 30 bis 50 Prozent aller COVID-Todesfälle unter den Bewohner*innen solcher Einrichtungen auf, obwohl diese weniger als 1 Prozent der Bevölkerung ausmachen.
Sicherheit um jeden Preis?
Um Bewohner*innen und Pflegepersonal zu schützen, wurden eine Reihe von Maßnahmen getroffen, beispielsweise Beschränkungen der Besuchsmöglichkeiten oder das Aussetzen von Gemeinschaftsaktivitäten. Diese haben aber teils erhebliche Auswirkungen auf die seelische und körperliche Gesundheit der Betroffenen. „Bei derart einschneidenden Maßnahmen sollten wir eigentlich schon wissen, ob und wie gut sie wirken", sagt Jan Stratil, Arzt und Epidemiologe am Institut für Public Health und Versorgungsforschung an der Pettenkofer School of Public Health der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er ist einer der Hauptautoren eines neuen Cochrane Reviews, der ebendieser Frage nachgeht.
Das Autoren-Team fand insgesamt 22 relevante wissenschaftliche Studien zu Schutzmaßnahmen in stationären Pflegeeinrichtungen. Dabei handelte es sich allerdings um 11 Beobachtungsstudien und 11 Studien auf Basis von mathematischen Modellen - beide Studientypen haben nur eine begrenzte Aussagekraft. Alle Studien wurden in Europa oder Nordamerika durchgeführt, jedoch keine davon in Deutschland. Die Studien beschrieben eine Reihe von verschiedenen Maßnahmen, darunter solche, die den Eintrag des Virus in die Einrichtungen verhindern, die Wahrscheinlichkeit einer Übertragung in der Einrichtung reduzieren oder im Falle eines Ausbruchs dessen Folgen begrenzen sollen.
Bei der Auswertung der Studien zeigte sich allerdings, dass derzeit nur begrenzt Aussagen zur Wirksamkeit möglich sind. „Die Studien sind sehr unterschiedlich und viele haben eine Reihe von Schwachstellen. Das macht es schwer, für die meisten der untersuchten Maßnahmen eindeutige Schlüsse zu ziehen“, sagt Stratil.
Hinweise auf einen Nutzen von Tests und Maßnahmen-Kombis
Die Forschenden fanden allerdings durchaus Hinweise, dass Schutzmaßnahmen dabei helfen können, SARS-CoV-2 Infektionen in den Einrichtungen zu verhindern und deren negative Konsequenzen zu verringern. Das gilt vor allem für die regelmäßige Testung von Bewohner*innen und Pflegepersonal mit dem Ziel, Ausbrüche möglichst früh zu erkennen. Auch deutet die versammelte Evidenz aus Studien darauf hin, dass die Kombination verschiedener Schutzmaßnahmen Infektionen und Todesfälle reduzieren könnte. „Für eine Reihe anderer Maßnahmen ist die Studienlage allerdings unklar“, sagt Stratils Kollege Renke Biallas, der zweite Hauptautor des Reviews. „Manche Studien lassen zwar einen Nutzen von Maßnahmen wie Besuchsbeschränkungen, der Bildung von abgeschlossenen Gruppen oder Quarantäne vermuten, aber die Ergebnisse sind nicht zuverlässig. Wir brauchen dringend mehr und bessere Forschung.“
Große Lücken in der Evidenz und wie man sie schließen könnte
Großer Forschungsbedarf besteht auch zu negativen gesundheitlichen oder sozialen Auswirkungen der Schutzmaßnahmen und zur Situation in Pflegeeinrichtungen mit hohen Impfquoten. „Auch in der vierten Welle werden wieder Schutzmaßnahmen notwendig sein, jedoch müssen wir darauf achten, dass Nutzen und Belastungen der Maßnahmen in einem positiven Verhältnis bleiben“, so Biallas.
„Wir müssen aber auch darüber nachdenken, warum trotz der hohen Anzahl von Todesfällen unter Bewohner*innen und Pflegepersonal dieser Einrichtungen so wenig aussagekräftige Forschung erfolgt ist“, ergänzt Jan Stratil. „Wenn wir die Gründe hierfür verstehen, kann uns das helfen, in dieser und in zukünftigen Pandemien unsere begrenzten Mittel gezielter und wirksamer einzusetzen, um Menschenleben zu retten.“
Hinweis: Dieser Cochrane Review basiert auf Ergebnissen des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung über das Netzwerk Universitätsmedizin geförderten Forschungsprojekts CEOsys (das COVID-19-Evidenzökosystem).
Dr. Jan M Stratil
Institut für Medizinische Informationsverarbeitung, Biometrie und Epidemiologie
Pettenkofer School of Public Health, LMU München
Email: stratil@ibe.med.uni-muenchen.de
Stratil JM, Biallas RL, Burns J, Arnold L, Geffert K, Kunzler AM, Monsef I, Stadelmaier J, Wabnitz K, Litwin T, Kreutz C, Boger AH, Lindner S, Verboom B, Voss S, Movsisyan A. Non‐pharmacological measures implemented in the setting of long‐term care facilities to prevent SARS‐CoV‐2 infections and their consequences: a rapid review. Cochrane Database of Systematic Reviews 2021, Issue 9. Art. No.: CD015085. DOI: 10.1002/14651858.CD015085.pub2.
https://www.cochrane.de/de/news/wie-lassen-sich-alten-und-pflegeheime-vor-covid-...
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, Wissenschaftler
Gesellschaft, Medizin, Philosophie / Ethik
überregional
Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
Deutsch
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