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24.09.2021 13:30

Ein Drittel der Patientinnen und Patienten mit schweren Nierenfunktionseinschränkungen werden nicht behandelt

Dr. Bettina Albers Pressearbeit
Deutsche Gesellschaft für Nephrologie e.V. (DGfN)

    Gerade in frühen Stadien chronischer Nierenerkrankungen (CKD) schlägt eine medikamentöse Therapie meist gut an; aber auch in fortgeschrittenen Stadien können kritische Blutwerte bei konsequenter, adäquater Behandlung unter Kontrolle gebracht werden – so dass die Notwendigkeit einer chronischen Dialysebehandlung meist noch längere Zeit hinausgezögert oder ganz vermieden werden kann. Die Möglichkeiten und Chancen der rechtzeitigen Erkennung und effektiven Therapie werden jedoch häufig vertan – das zeigte eine aktuellle Auswertung von Daten der AOK Nordost, die erstmals Routine-Laborparameter der Nierenfunktion mit Diagnosedaten von über 6.000 CKD-Patientinnen und -Patienten verglich [1].

    Weltweit steigt die Zahl von Menschen mit chronischer Nierenerkrankung (CKD) an [2], in Deutschland sind es bereits ca. 9 Millionen [3]. Drei von vier chronisch Nierenkranken wissen jedoch gar nichts von ihrer Erkrankung [4] – und lediglich zwei von drei Betroffenen mit bekannter CKD werden adäquat behandelt. Eine CKD geht mit verschiedenen Begleiterkrankungen, Komplikationen und insgesamt eingeschränkter Lebensqualität sowie Lebenserwartung einher; bei weit fortgeschrittener Erkrankung bleibt oft nur eine Transplantation oder die regelmäßige Dialysebehandlung (mindestens vier Stunden mehrmals pro Woche). In Deutschland sind zurzeit ungefähr 80.000-95.000 Menschen auf eine Dialyse angewiesen. Bei rechtzeitiger Diagnosestellung kann jedoch in vielen Fällen das Fortschreiten der Erkrankung verlangsamt, die Dialysepflicht deutlich hinausgeschoben oder ganz verhindert werden.

    Das Projekt „Eskalationsvermeidung Niereninsuffizienz“ (gefördert durch die AOK Nordost) hat retrospektiv Krankenversicherungsdaten von 3.358 CKD-Patientinnen und 2.740 CKD-Patienten (datenschutzsicher pseudonymisiert) parallel bzw. longitudinal zu den Laborwerten analysiert (2010-2016); außerdem flossen Daten zweier ambulanter MVZs (Medizinische Versorgungszentren) aus Rostock in die Analyse ein. So wurden erstmalig spezielle Fragestellungen zum zeitlichen Ablauf einer CKD bearbeitet. Anhand von Laborwerten (eGFR/glomeruläre Filtrationsrate) wurden CKD-Schweregrade berechnet und diese dann mit den der Krankenkasse vorliegenden Diagnosenummern (ICD-Kodes) verglichen. Weiter wurden Zusammenhänge von CKD-Stadien, Laborparametern und Begleiterkrankungen ermittelt.

    Es zeigte sich, dass die Anzahl der Nierenkranken mit dem Alter zunimmt (Maximum mit 70- bis 79 Jahren). Die Patientenzuordnung war besonders in frühen CKD-Stadien oft fehlerhaft oder ungenau. Nur in 3,6% der quartalsweisen Dokumentationen passten die Diagnoseschweregrade auch zur Normabweichung der Blutwerte. Erst mit Progredienz der CKD verbesserte sich die Übereinstimmung der Erkrankungsstadien mit den Laborwerten; sie lag für die Stadien 2-5 (5 = terminaler Erkrankungsgrad/ Dialysepflichtigkeit) bei 17,2%, 70,6%, 66,6% und 91,2%. Eine CKD-Progredienz war neben dem Alter am stärksten mit den Risikofaktoren Diabetes mellitus, Adipositas, Herzinsuffizienz und Proteinurie assoziiert.

    „In Deutschland war dies die erste Analyse, die dokumentierte, klinische Routinedaten mit Laborparametern verknüpft und in einen Zusammenhang mit dem CKD-Verlauf gebracht hat“, kommentierte Prof. Dr. med. Steffen Mitzner, Sektionsleiter Nephrologie, Universitätsmedizin Rostock und Kongresspräsident der 13. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Nephrologie (Kongress für NepHROlogie) in Rostock. „Im Klartext zeigen diese Daten, dass chronische Nierenkrankheiten in Deutschland unterdiagnostiziert und – vor allem – unterbehandelt sind, denn bei Einleitung einer Therapie müsste auch eine ICD-Kodierung erfolgen. Das therapeutische Fenster, das besteht, um die Progression der Nierenerkrankung einzudämmen, wird nicht ausreichend genutzt.“

    Wie der Experte ausführt, erschrecken diese Zahlen. Selbst im CKD-Stadium 4, wenn die Filterfunktion der Nieren (=GFR) bei 15-30 ml/min/1,73 m2 liegt (>90 ist normal), also nur noch deutlich weniger als ein Drittel der Normalfunktion beträgt, sind nur 66,6% der Patientinnen und Patienten korrekt diagnostiziert. Bei den übrigen 33,3% ist kein entsprechender ICD-Kode hinterlegt und ihnen werden nicht konsequent die Medikamente verschrieben, die den Verlust der Nierenfunktion aufhalten können.

    „Das heißt: Ein Drittel der Patientinnen und Patienten mit schweren Nierenfunktionseinschränkungen wurden nicht oder nicht ausreichend behandelt. Wir können nur hoffen, dass sich die Situation in den letzten Jahren verbessert hat, die Studie hat ja die Jahre 2010-2016 ausgewertet“, erklärt Mitzner. „Im Jahr 2019 ist die Leitlinie der DEGAM ‚Versorgung von Patienten mit nicht-dialysepflichtiger Nierenerkrankung in der Hausarztpraxis‘ [5] in Kraft getreten, die klar definiert, in welchen Abständen das Monitoring der Erkrankten und ab wann eine Überweisung zur Nephrologin/zum Nephrologen erfolgen soll.“

    Doch der Rostocker Experte sieht auch in der DEGAM-Leitlinie eine Schwäche: Wenn bei Erstdiagnose einer Nierenkrankheit eine Proteinurie ausgeschlossen wurde, empfehlen die Leitlinien derzeit kein routinemäßiges Monitoring der Mikroalbuminurie. „Fakt ist aber – und das haben die vorliegenden Daten erneut eindrucksvoll gezeigt: Die Proteinurie korreliert mit dem Fortschreiten des Nierenfunktionsverlusts und dem Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Sie kann jahrelang stabil sein – und dann bleibt in der Regel auch die Nierenfunktion stabil. Steigen aber die Eiweißwerte im Urin an, ist das ein sicheres Zeichen dafür, dass die Nierenfunktion abnimmt und die kardiovaskuläre Sterblichkeit ansteigt. Das Problem: Wird die Proteinurie nicht routinemäßig erhoben, verpassen wir u. U. den Zeitpunkt, an dem wir noch korrigierend eingreifen und den Nierenfunktionsverlust stoppen oder zumindest verlangsamen können. Das ist ein bisschen so, als würde man beim Kauf eines Gebrauchtwagens einmal den Ölstand messen und dann nie wieder, solange, bis es zum Motorschaden kommt.“

    Die DGfN macht sich daher seit Jahren für die Erhebung der Mikroalbuminurie als Routinemarker bei Früherkennungs- und Verlaufsuntersuchungen stark. Die Kosten dafür betragen nur wenige Euros. Demgegenüber stehen 16.000 – 18.000 Menschen*, die jährlich in Deutschland neu dialysepflichtig werden und für deren Nierenersatztherapie dann pro Jahr pro Betroffenen ca. 40.000 Euro ausgegeben werden. „Wir sparen hier am falschen Ende“, so Mitzner abschließend.



    [1] Westphal C, Fritze T, Sehlen S, Freitag J, Krage B, Kraeft A, Prophet H, Mitzner S. Qualität der Eskalationsvermeidung bei chronischer Niereninsuffizienz: Ergebnisse einer retrospektiven Längsschnittanalyse. FV26
    [2] Liyanage T, Ninomiya T, Jha V et al. Worldwide access to treatment for end-stage kidney disease. A systematic review. The Lancet 2015; 85 (9981): 1975–1982
    [3] Deutsche Gesellschaft für Nephrologie. www.dgfn.eu
    [4] Girndt M, Trocchi P, Scheidt-Nave C et al. The Prevalence of Renal Failure. Results from the German Health Interview and Examination Survey for Adults, 2008-2011 (DEGS1). Deutsches Ärzteblatt international 2016; 113 (6): 85–91
    [5] https://www.degam.de/degam-leitlinien-379.html

    *Seit 2007 hat Deutschland kein Dialyseregister mehr. 2006 wurden im „Quasi Niere Register“ 16.241 Menschen registriert, die neu an die Dialyse kamen. Es ist anzunehmen, dass diese Zahl jährlich weiter angestiegen ist, sei es durch die Überalterung der Gesellschaft sowie auch aufgrund der stark gestiegenen Zahlen von Menschen mit Diabetes mellitus.

    Pressekontakt
    Pressestelle der DGfN
    Dr. Bettina Albers
    presse@dgfn.eu
    Tel. 03643/ 776423 / Mobil 0174/ 2165629


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    Journalisten
    Medizin
    überregional
    Forschungs- / Wissenstransfer, Wissenschaftliche Tagungen
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