Ein ausgeklügeltes genetisches System steuert die Entwicklung der Extremitäten. Forschende der Universität Basel werfen ein neues Licht auf den Werkzeugkasten, mit dem die Evolution so unterschiedliche Extremitäten wie Flossen, Flügel, Hufe, Zehen und Finger hervorgebracht hat.
Vieles könnte schiefgehen, wenn die befruchtete Eizelle zum Embryo und schliesslich zum Baby heranwächst. Spontane Mutationen im Erbgut sind relativ häufig. Dass es meistens doch gut ausgeht, verdanken Mensch und Tier genetischen Programmen, die mit einer Reihe von redundanten Schaltkreisen als Sicherheitsvorkehrung arbeiten und sich in hohem Mass selbst regulieren. Fällt ein Schaltkreis aus, können andere den Ausfall kompensieren.
Für diese Robustheit von Entwicklungsprogrammen interessiert sich die Forschungsgruppe um Prof. Dr. Rolf Zeller und PD Dr. Aimée Zuniga vom Departement Biomedizin der Universität Basel. Ihr Fokus liegt dabei auf einem zentralen Regulator der Gliedmassenentwicklung, einem Protein namens «Gremlin1». Es bremst das Knochenwachstum und spielt eine Rolle in einer ganzen Reihe von Signalnetzwerken. Vor allem aber steuert es die korrekte Ausbildung der sogenannten Gliedmassenknospen im Embryo, aus denen sich die Extremitäten bilden.
Netzwerk sichert korrekte Entwicklung
In Versuchen mit Mäuseembryonen haben die Forschenden eine weitere Ebene der Regulation – und der Robustheit – dieses Entwicklungsprogramms entschlüsselt. Im Fachjournal «Nature Communications» berichten sie von einem Netzwerk an «Schaltern» im Erbgut, das dafür sorgt, dass Gremlin1 am richtigen Ort und in der richtigen Menge produziert wird. Fachleute nennen diese Schalter «Enhancer».
Zuniga vergleicht das System, das sie und ihr Team untersuchen, mit einem Raum mit einer Beleuchtung, welche von einer Serie von Schaltern kontrolliert wird. Das Licht ermöglicht es, die Anleitung zu lesen, um korrekt geformte Gliedmassen auszubilden. «Wir wussten zu Beginn nicht, was jeder einzelne Schalter zur Beleuchtung beträgt», so die Forscherin. «Es könnte einen Master-Schalter geben, der alles Licht löscht, sodass die Anleitung nicht mehr lesbar ist. Stattdessen wissen wir nun, dass alle Schalter zur Beleuchtung beitragen und einzelne veränderte oder defekte Schalter die Beleuchtung nur wenig oder nicht beinträchtigen, sodass immer noch die gesamte Information lesbar ist. Darin liegt die Robustheit des Systems. Sind hingegen zu viele Schalter kaputt, kann die Information nur noch teilweise oder nicht mehr gelesen werden.»
Tatsächlich ergaben die Analysen des Doktoranden Jonas Malkmus und seiner Kollegen, dass einzelne Schalter ausfallen können, ohne dass dies Gremlin1 oder die Extremitätenentwicklung stören würde. Unter einem gewissen Schwellenwert an funktionierenden Schaltern versagt das System jedoch und es kommt zu Fehlbildungen. «Dieses mehrfach abgesicherte System erklärt, warum beim Menschen Fehlbildungen der Gliedmassen aufgrund von Fehlern im Regulationsgefüge von Gremlin1 sehr selten sind», so Malkmus.
Stabilität mit Raum für Veränderung
In einem weiteren Schritt zeichneten die Forschenden die Spur dieses Regulationsnetzwerks im Laufe der Evolution nach. Der wichtigste Teil des Netzwerks an Schaltern, das für die korrekte Menge und Verteilung von Gremlin1 auch beim menschlichen Embryo sorgt, existierte demnach bereits vor über 400 Millionen Jahren in Fischen. «Die Evolution hatte also bereits den Werkzeugkasten, unterschiedliche Extremitäten hervorzubringen, bevor aus Flossen Beine wurden und die ersten Tiere an Land gingen», erklärt Zuniga. Was sich im Zuge der Evolution änderte, war die Aktivität der einzelnen Enhancer und dadurch die Verteilung von Gremlin1. «Anhand der Aktivität der Genschalter und der Verteilung von Gremlin1 in Gliedmassenknospen kann man bereits erahnen, ob sie sich zu Flossen, Flügeln, Hufen oder Händen und Füssen entwickeln», erklärt Rolf Zeller.
Gäbe es nur einen einzelnen Schalter, der die Produktion von Gremlin1 steuert, wäre der Evolutionsdruck enorm gross, diesen ganz exakt so zu erhalten, wie er ist. «Das System mit vielen Schaltern sorgt auf der einen Seite für Sicherheit, dass das System nicht ausfällt», so Zuniga. «Auf der anderen Seite gibt es der Evolution Spielraum.» Einzelne Schalter konnten sich so ohne grossen Druck verändern. Dies hat dazu beigetragen, dass sich im Verlauf der Evolution eine grosse Vielfalt von Extremitäten entwickeln konnte.
Die Studie wurde finanziell durch den Schweizerischen Nationalfonds SNF und einen Advanced Grant des Europäischen Forschungsrats ERC unterstützt.
PD Dr. Aimée Zuniga, Departement Biomedizin, Universität Basel,
aimee.zuniga@unibas.ch, +41 61 207 50 29
Jonas Malkmus et al.
Spatial regulation by multiple Gremlin1 enhancers provides digit development with cis-regulatory robustness and evolutionary plasticity.
Nature Communications (2021), doi: 10.1038/s41467-021-25810-1
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten
Biologie, Geschichte / Archäologie
überregional
Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
Deutsch
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