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24.03.2004 14:43

Ferien mit der deutschen Sprache

Dr. Antonia Rötger Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Max-Planck-Institut für Bildungsforschung

    In einer Sommerferienschule lernen Bremer Kinder beim Theaterspielen Deutsch und können Rückstände aufholen. Max-Planck-Forscher um Jürgen Baumert begleiten das Projekt.

    Professor Dr. Jürgen Baumert und Dr. Petra Stanat vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung haben ein neues Projekt zur Sprachförderung von benachteiligten Kindern aus zugewanderten Familien konzipiert und werden es wissenschaftlich begleiten. Mit folgendem Text schildern sie ihr Vorhaben, das von der Jacobs-Stiftung gefördert wird und erstamls in diesem Sommer in Bremen stattfindet.

    Das Projekt, das heute in Bremen der Öffentlichkeit vorgestellt wird, fügt sich in besonderer Weise in die allgemeinen Zielsetzungen und das Programm der Jacobs-Stiftung zu "European Path of Lifelong Learning" ein. Es handelt sich dabei um eine Maßnahme zur Förderung von deutschen Sprachkompetenzen bei Kindern aus zugewanderten und sozial benachteiligten Familien, das vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung konzipiert und evaluiert wird. Die Umsetzung des Programms erfolgt in enger Kooperation mit dem Senator für Bildung und Wissenschaft der Freien Hansestadt Bremen.
    Ergebnisse von Schulleistungsstudien haben wiederholt gezeigt, dass Kinder und Jugendliche aus zugewanderten und sozial schwachen Familien in Deutschland deutlich geringere Bildungserfolge erzielen als Schülerinnen und Schüler ohne Migrationsgeschichte. Eine Benachteiligung besteht sowohl im Kompetenzerwerb als auch in den Mustern der Bildungsbeteiligung. Bereits gegen Ende der Grundschulzeit sind die Leistungsunterschiede zwischen Kindern mit und ohne Migrationshintergrund in Deutschland sehr ausgeprägt. Entsprechend schaffen nur wenige Schülerinnen und Schüler aus zugewanderten Familien den Sprung in das Gymnasium; in Haupt- und Förderschulen sind sie deutlich

    überrepräsentiert. Befunden aus PISA, IGLU und der Hamburger Untersuchung zu Aspekten der Lernausgangslage zufolge besteht eine entscheidende Hürde für Kinder mit Migrationshintergrund beim Übergang in die Sekundarstufe I darin, wie gut sie die Verkehrssprache beherrschen. Gleichzeitig weisen international vergleichende Schulleistungsstudien darauf hin, dass es in Deutschland weniger gut gelingt als in den meisten anderen Staaten, Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund beim Erwerb der Verkehrssprache zu unterstützen. So ist der Leistungsnachteil von 15-Jährigen, die zu Hause eine andere Sprache sprechen als die, in der sie den PISA-Test absolviert haben, in kaum einem Teilnehmerstaat so groß wie in Deutschland.
    Zur Förderung von Kindern und Jugendlichen aus zugewanderten Familien kommen in Deutschland bereits vielfältige Maßnahmen zur Anwendung. Diese Maßnahmen basieren jedoch kaum auf systematischen Erkenntnissen zur Lernentwicklung von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund und ihre Effektivität ist weitgehend ungeprüft. Das Projekt des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung wird einen wichtigen Beitrag dazu leisten, in diesem Forschungsfeld empirisch fundierte und praktisch nutzbare Erkenntnisse zu gewinnen.
    Das Jacobs-Sommercamp Projekt knüpft an die Literatur zur Kompetenzentwicklung von Schülerinnen und Schülern in unterrichtsfreien Zeiten an, die unter dem Stichwort Summer Learning in den USA bereits seit geraumer Zeit Gegenstand empirischer Untersuchungen und bildungspolitischer Diskussionen ist. In zahlreichen Studien hat sich gezeigt, dass bei Kindern und Jugendlichen über die Sommerferien Lernverluste beobachtet werden können, die in Abhängigkeit von der sozialen Herkunft unterschiedlich ausgeprägt sind. Während etwa im Bereich Lesen bei Schülerinnen und Schülern aus Familien der Mittelschicht häufig sogar Leistungszuwächse auftreten, ist bei Kindern aus sozial schwächeren Familien tendenziell ein Leistungsabfall zu erkennen. Nach Schätzungen einer systematischen Auswertung von Untersuchungen aus den USA resultiert aus diesen unterschiedlichen Entwicklungsverläufen über den Sommer im Durchschnitt ein Leistungsunterschied zwischen den Gruppen, der einem Lernzuwachs von zwei bis drei Monaten entspricht.
    Die negativen Effekte der Sommerferien auf die Kompetenzentwicklung von Schülerinnen und Schülern führten in den USA zu Diskussionen darüber, ob der bestehende Schulkalender modifiziert werden sollte. Unter dem Stichwort des "year around schooling" wurde eine Reihe von Modellen entwickelt und umgesetzt. Der am weitesten verbreitete Ansatz besteht darin, Ferienprogramme ("summer schools") anzubieten. Die Mehrzahl dieser Programme zielt darauf ab, Schülerinnen und Schülern, die Leistungsschwächen aufweisen, zu unterstützen. Häufig ist die Teilnahme an den Angeboten sogar verbindlich. Aber auch für Kinder und Jugendliche ohne schulische Schwierigkeiten existieren vielfältige Sommerangebote. Sogenannte "enrichment programs" eröffnen Schülerinnen und Schülern mit besonderen Begabungen oder Interessen die Möglichkeit, ihre Kenntnisse in den jeweiligen Bereichen zu vertiefen.

    Zur Wirksamkeit von Summer Schools liegt bereits eine Vielzahl von Studien vor. Eine systematische Auswertung dieser Untersuchungen kommt zu dem Ergebnis, dass Programme, die sich primär an schwächere Schülerinnen und Schüler richten, positive Effekte zeigen. Über alle in diese Analyse einbezogenen Studien hinweg waren die Leistungen von Schülerinnen und Schülern, die an einem Ferienprogramm teilgenommen hatten, im Durchschnitt signifikant besser als die der Kontrollgruppen. Demnach ist es möglich, mit Sommerprogrammen Kompetenzverluste zu kompensieren und im Idealfall sogar darüber hinausgehende Lernerfolge zu erzielen.

    Ausgehend von Befunden zur Kompetenzentwicklung von Schülerinnen und Schülern in der unterrichtsfreien Zeit soll mit dem Jacobs-Sommercamp Projekt ein Förderprogramm für die Sommerferien entwickelt und in seiner Wirksamkeit überprüft werden, das sich primär an Schülerinnen und Schüler aus zugewanderten Familien richtet. Da der Bildungserfolg von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund in hohem Maße davon abhängt, wie gut sie die deutsche Sprache beherrschen, konzentrieren sich die geplanten Maßnahmen auf die Förderung von sprachlichen Kompetenzen. Dabei soll es nicht darum gehen, die Schulzeit auf die Ferien auszudehnen. Es wird vielmehr das Ziel verfolgt, ein attraktives Ferienprogramm anzubieten, das den Kindern Spaß macht und ihnen die Möglichkeit bietet, dabei spielerisch zu lernen.

    Das Förderprogramm umfasst zwei Komponenten. Bei der ersten Komponente handelt es sich um einen primär handlungsorientierten Ansatz zur Förderung sprachlicher Kompetenzen, der in erster Linie durch ein theaterpädagogisches Angebot mit einer ausgeprägten sprachlichen Orientierung operationalisiert wird. Darüber hinaus sind Freizeitaktivitäten geplant, die in unterschiedlichem Maße ebenfalls mit dem Gebrauch von Sprache verbunden sind. Mit dieser handlungsorientierten Förderkomponente soll der Frage nachgegangen werden, inwieweit damit implizite Lernprozesse ausgelöst werden, die sich positiv auf die Kompetenzentwicklung im sprachlichen Bereich auswirken.

    Die zweite Komponente des Programms besteht in expliziter Förderung, die sich an einem sprachsystematischen Ansatz für das Fach Deutsch als Zweitsprache orientiert. Die meisten der Schülerinnen und Schüler nichtdeutscher Herkunftssprache sind bereits in Deutschland geboren und haben die gesamte Schullaufbahn hier absolviert. Sie verfügen in der Regel bei Schuleintritt bereits über mehr oder weniger gut ausgebildete Deutschkenntnisse. Selbst bei Kindern, die relativ flüssig mündlich kommunizieren können, sind jedoch die Voraussetzungen für die Entwicklung von Sprachkompetenzen, die für schulischen Erfolg erforderlich sind, oft deutlich weniger ausgeprägt. Zentrale Aspekte sind dabei unter anderem der Wortschatz und die Grammatik. Im Rahmen der expliziten Förderung soll den Kindern dazu verholfen werden, wichtige Hürden im Regelsystem der deutschen Sprache zu bewältigen. Angesichts des knappen Zeitraums, der zur Verfügung steht, wird sich das Programm dabei auf ausgewählte Aspekte, wie etwa die Bedeutung und Nutzung von Strukturwörtern, konzentrieren. Im Rahmen der expliziten Förderkomponente, die ebenfalls spielerisch gestaltet sein wird, ist auch der Einsatz von Computern geplant.

    Da im relativ früh gliedernden Schulsystem der Bundesrepublik Deutschland der Kompetenzerwerb im Elementarbereich für den Bildungserfolg von Schülerinnen und Schülern entscheidend ist, wird die Interventionsstudie mit Grundschulkindern durchgeführt. Zielgruppe sind Schülerinnen und Schüler, die vor den Sommerferien die dritte Klassenstufe abgeschlossen haben.

    Das Ferienprogramm umfasst vier zeitliche Abschnitte. In den ersten zwei Wochen werden die Schülerinnen und Schüler täglich mit dem Bus in Schullandheime in der Nähe von Bremen fahren und dort an den Theater-, Freizeit- und systematischen Lernaktivitäten teilnehmen. Abfahrt ab Bremen wird morgens zwischen 9:00 und 10:00 Uhr sein, Rückkehr gegen 18:00 Uhr. In der dritten Woche werden die Schülerinnen und Schüler dann in den Schullandheimen übernachten. Diese Phase dient der Intensivierung der in den ersten zwei Wochen begonnenen Aktivitäten. In der Woche vor Schulbeginn werden die Theater- und systematischen Lernaktivitäten ausgesetzt. In dieser Zeit werden die Schülerinnen und Schüler an verschiedenen Freizeitangeboten u. a. von Bremer Vereinen teilnehmen. Für die Woche des Schulbeginns schließlich sind Proben der in den Schullandheimen erarbeiteten Theaterstücke vorgesehen. Den Höhepunkt und Abschluss des Ferienprogramms bildet eine Aufführung im Waldau-Theater in Bremen, zu dem die Eltern der Schülerinnen und Schüler, die Lehrkräfte aus ihren Schulen sowie alle an der Studie beteiligten Personen eingeladen werden.

    Für eine Gruppe von jeweils 15 Kindern stehen vier Pädagogen zur Verfügung. Eltern, die bei der Betreuung mitmachen möchten, können sich gern beteiligen und gegebenenfalls mit ihren arabischen, russischen oder türkischen Sprachkenntnissen bei Verständigungsschwierigkeiten helfen. Die Kinder werden im Sommercamp voll verpflegt, wobei besondere Essensvorschriften, z. B. für muslimische Kinder, beachtet werden.

    Insgesamt können 150 Schülerinnen und Schüler, die derzeit eine dritte Klasse besuchen, am Jacobs-Sommercamp teilnehmen. Insbesondere Kinder aus zugewanderten Familien, aber auch Kinder ohne Migrationshintergrund sind eingeladen, sich zu bewerben. Aus allen Bewerbern werden 150 Kinder für die Teilnahme am Camp ausgelost. Die Teilnahmegebühren sind mit 30 Euro sehr gering.

    Das Jacobs-Sommercamp bietet Kindern die einmalige Chance, in den Ferien viel Spaß zu haben und dabei gleichzeitig spielerisch zu lernen. Die Ergebnisse aus der Begleituntersuchung werden Auskunft darüber geben, mit welcher Art der Förderung Schülerinnen und Schüler aus zugewanderten und sozial schwachen Familien im Bereich der Sprachkompetenz und Schulfähigkeit unterstützt werden können. Damit soll ein wichtiger Beitrag zur Entwicklung von Werkzeugen für die systematische Verbesserung der Bildungs- und Lebenschancen einer Gruppe von besonders gefährdeten Schülerinnen und Schülern geleistet werden. Andere Städte haben bereits Interesse angemeldet, das Projekt bei Erfolg zu wiederholen.


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Pädagogik / Bildung
    überregional
    Forschungsprojekte
    Deutsch


     

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