Internationale Daten zeigen, dass zu Beginn der ersten Pandemie-Welle vor allem die sozioökonomisch bessergestellten Gebiete betroffen waren. Erst nach und nach breitete sich COVID-19 stärker in den weniger privilegierten Gebieten aus – dann aber umso heftiger. Bei der „Spanischen Grippe“ vor rund 100 Jahren war es ähnlich.
Kein Zweifel: Die sozial Schwächeren trifft die Pandemie besonders hart. Zu Beginn der Corona-Krise sah das aber anders aus. Im Frühling 2020 waren es zuerst die reicheren Regionen, in denen sich das Virus in Deutschland verbreitete. Jana Berkessel, Dr. Tobias Ebert und Prof. Dr. Jochen Gebauer vom Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung (MZES) der Universität Mannheim zeigten gemeinsam mit weiteren Forscherinnen und Forschern aus Dänemark und den USA diese Entwicklung auf – nicht nur für Deutschland, sondern auch für England und die USA. Dass sie dabei erstaunliche Parallelen zur „Spanischen Grippe“ vor rund 100 Jahren entdeckten, könnte bedeutsam sein für den künftigen Umgang mit Pandemien.
Berkessel, Ebert und ihr Team haben die Untersuchung mittlerweile in der vielrezipierten Fachzeitschrift „Social Psychological and Personality Science“ veröffentlicht. Ihr Beitrag beschreibt zwei Studien: Für die erste Studie analysierten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Covid-19-Infektionszahlen aus rund 400 deutschen, 300 englischen und 3.000 US-amerikanischen Regionen im Zeitverlauf. Für die zweite Studie untersuchte das Forschungsteam historische Daten zu rund 6.700 Todesfällen von US-Bürgern während der „Spanischen Grippe“ von 1918 bis 1919.
Wohlhabendere anfangs deutlich stärker betroffen
„Das Virus verbreitete sich anfangs schneller in reicheren Gebieten. Bald kehrte sich das jedoch um und ärmere Gebiete rückten in den Brennpunkt, mit schwerwiegenden Folgen“, erklärt Jana Berkessel. So zeige sich für alle drei untersuchten Länder, dass sich Covid-19 am Anfang stärker in Gebieten mit höherem Median-Einkommen verbreitet habe. Tobias Ebert: „Nach 30 Tagen Pandemie waren Gebiete mit höherem Einkommen in den USA und Deutschland deutlich stärker betroffen als unterprivilegiertere Gebiete. In England war es ähnlich, aber weniger ausgeprägt.“
Langsamere Verbreitung in den ärmeren Gebieten Deutschlands
Erst mit der Zeit stiegen die Infektionszahlen in den unterprivilegierten Regionen. Während in den USA und England die ärmeren Gebiete aber sehr bald stärker von Covid-19 betroffen waren als reichere Gebiete, blieb diese Umkehr während der ersten Pandemiewelle in Deutschland aus. „Die USA haben der Verbreitung des Virus anfangs wenig entgegengesetzt. Es erscheint daher logisch, dass das sehr dynamische Infektionsgeschehen dort bald auch die unterprivilegierten Gebiete erreichte“, so Berkessel. In Deutschland habe man die erste Welle dagegen offensichtlich früh genug abgebremst, bevor diese von reicheren auf unterprivilegierte Gebiete überspringen konnte, bilanziert das Forschungsteam: „Die Verbreitung in den unterprivilegierten Gebieten Deutschlands ging – höchstwahrscheinlich aufgrund der getroffenen Maßnahmen – wesentlich langsamer als in den USA oder England.“
Warum erst die Reichen? Entscheidend sind wohl Netzwerke und Mobilität
Doch warum trifft es die reicheren Gebiete offenbar prinzipiell zuerst? Die Psychologinnen und Psychologen sehen als Ursache, dass wohlhabendere Personen oft diverser vernetzt und grundsätzlich mobiler sind. Wer ein hohes Einkommen hat, ist beispielsweise tendenziell häufiger auf Geschäfts- oder Urlaubsreisen und hat mit relativ vielen unterschiedlichen Menschen zu tun. „Und wenn ein Virus kurz vor der massenhaften Verbreitung steht und das Sozialleben noch nicht eingeschränkt ist, dann sind es genau diese Menschen mit diversen Kontakten, welche eine hohe Wahrscheinlichkeit haben, sich anzustecken und das Virus weiterzugeben. Plakativ ausgedrückt: „Die mobilen Eliten schleppen das Virus ungewollt ein, die Ärmeren kriegen es dann mit Verzögerung ab“, resümiert Ebert.
Lehren für künftige Pandemien
Dass der Weg von „Spanischer Grippe“ und Covid-19 durch die Schichten der Gesellschaft – zuerst die Reichen, dann die Armen – prinzipiell ähnlich war, legt für das Forschungsteam Schlussfolgerungen für mögliche künftige Pandemien nahe. „Unsere Erkenntnisse zeigen, dass man in der wichtigen Phase zu Beginn einer Pandemie genau hinsehen muss, welche Maßnahmen zu treffen sind, um die Ausbreitung effektiv zu unterbinden“, erklärt Jana Berkessel. Es erscheine beispielsweise ratsam, in der Frühphase das Ausbruchsgeschehen insbesondere in wohlhabenderen Regionen genau zu verfolgen.
Keine Scheinbefunde aufgrund unterschiedlicher Bevölkerungsdichten oder Testkapazitäten
Umfangreiche Zusatzanalysen legen nahe, dass die Ergebnisse keine Scheinbefunde sind, die durch regional unterschiedliche Faktoren wie Testkapazitäten, Urbanität (Bevölkerungsdichte) oder Tourismuskapazitäten zustande kamen. „Wir haben unsere Befunde auf derartige Faktoren hin überprüft. Die Ergebnisse sind nach wissenschaftlichen Standards robust“, bilanziert das Forschungsteam.
Jana Berkessel
Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung (MZES)
Universität Mannheim
Telefon: +49-621 181-2817
E-Mail: jana.berkessel@uni-mannheim.de
https://www.mzes.uni-mannheim.de/d7/de/profiles/jana-berkessel
Dr. Tobias Ebert
External Fellow
Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung (MZES)
Universität Mannheim
Telefon: +49-621 181-2817
E-Mail: tobias.ebert@mzes.uni-mannheim.de
https://www.mzes.uni-mannheim.de/d7/de/profiles/tobias-ebert
https://doi.org/10.1177/19485506211039990
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, jedermann
Gesellschaft, Psychologie
überregional
Forschungsergebnisse
Deutsch
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