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26.03.2004 09:48

Warten auf Terror, der Tag nach der Tötung des Hamas-Führers

Stefanie Hahn Abteilung Hochschulkommunikation/Bereich Presse und Information
Friedrich-Schiller-Universität Jena

    Aktueller Erfahrungsbericht aus Israel vom Psychologen Prof. Frindte von der Universität Jena

    Haifa/Jena (26.03.04) Der Kommunikationspsychologe Prof. Dr. Wolfgang Frindte von der Friedrich-Schiller-Universität Jena weilt seit Ende Februar auf Einladung des "Bucerius Institut" an der Universität Haifa in Israel. Er hält dort Vorträge und Seminare ab, in denen er über seine Forschungen zu neueren Entwicklungen der Fremdenfeindlichkeit und des Antisemitismus in Deutschland berichtet. Er beschreibt den Tag, nachdem die israelische Armee den Hamas-Führer Scheich Ahmed Yassin getötet hat.

    Der 23. März 2004 war der bisher wärmste Tag im Jahr. In Haifa wurden 28 Grad Celsius gemessen. Temperaturen, die dazu einladen, im Freien in einem der vielen Cafés im "Deutschem Viertel" der Hafenstadt Haifa seinen Kaffee zu genießen. In der Luft liegt der Duft von Mandelbäumen. Aber es herrscht gähnende Leere, auch Supermärkte und öffentliche Einrichtungen sind wie leer gefegt. Es ist der Tag, nachdem die israelische Armee den Hamas-Führer Scheich Ahmed Yassin getötet hatte. Und es ist wieder "ein Tag danach". Ein "All"-Tag nach Terror und Gewalt, der von Nervosität, Gespanntheit und Angst vor neuen Anschlägen bestimmt wird. Es ist eine Woche vor dem Pessah-Fest. Über allem schwebt die Frage, wann werden Hamas oder andere Terrorgruppen zurückschlagen?

    März und April sind die schönsten Monate in Israel. Der Berg Carmel, auf dem auch Haifas Universität steht, grünt und blüht. Eigentlich wollte ich am 23. März vormittags meinen Kollegen Nabil Jondi in Hebron besuchen, um mit ihm ein deutsch-israelisch-palästinensisches Forschungsprojekt zu planen, das sich mit Terror- und Kriegsbedrohungen beschäftigen soll. Mein Ausflug in die Westbank, nach Hebron endet an der "grünen" Linie, die längst keine grüne mehr ist, sondern hochgesichert das israelische Kernland von den palästinensischen Gebieten trennt. Auch der schriftliche Nachweis meiner Herkunft und meiner friedlichen Absicht überzeugen die israelische Grenzpolizei nicht. Ich bleibe draußen, oder je nach Perspektive, drinnen - um meiner Sicherheit willen. Mein Kollege aus Hebron darf auch nicht rein bzw. raus. Unser Kontakt beschränkt sich auf Gespräche via Handy.

    Am Nachmittag fahre ich nach Haifa zurück, um mit israelischen Studierenden ein Seminar über Fremdenfeindlichkeit abzuhalten. Ich nehme den Weg über die neue Autobahn Nr. 6, ein Highway, an dem - im Gegensatz zu Deutschland - ein Mautsystem problemlos und störungsfrei funktioniert. Israel ist eben auch ein Hightech-Land. Auf der Höhe von Netanyia sieht man rechter Hand eine andere High-Tech-Errungenschaft, den neuen Grenzzaun. Der an einigen Stellen acht Meter hohe, mit elektronischen Sensoren gespickte "separation fence" soll Israel von den palästinensischen Gebieten trennen. Zum Teil schneidet er tief in palästinensisches Gebiet. Laut einer repräsentativen Umfrage unterstützen 84 % der israelischen Juden den Bau des Grenzzauns; 13 % sind generell gegen den Zaun. Insgesamt 70 % glauben, dass der Zaun ein effektives Mittel ist, um die palästinensischen Terroranschläge einzuschränken.

    Am Nachmittag an der Universität sind die Nervosität und Anspannung immer noch spürbar. Die Einlasskontrollen sind schärfer und die Gespräche mit meinen Freunden und Kollegen drehen sich nur um die Ereignisse des Vortages und mögliche Folgen. Die Reaktionen in Israel auf die Tötung Yassins sind so gegensätzlich wie das Land selbst. Die wohl mäßigste Kritik lautete: Musste das vor Pessah sein, dem Fest der Erinnerung an die Befreiung der Israeliten aus Ägypten. Mein Freund Dick von der Haifa Universität meint, Yassins Ermordung sei geradezu eine Einladung an die palästinensischen Terroristen, mit ihrem Terror fortzufahren. Es werde weiter Blut fließen. "Eine große Dummheit und schlimmer als ein Verbrechen", kommentiert der Aktivist Uri Avnery von der außerparlamentarischen Friedensorganisation Gush Shalom. Der Auffassung Sharons, Israel sei im Krieg und müsse sich mit kriegerischen Mitteln um seine Sicherheit kümmern, teilen in Israel nach meinem Erleben nur wenige. Die Studierenden meines abendlichen Seminars sind einheitlicher Meinung. Ähnlich wie ihre Kommilitonen der Hebrew University in Jerusalem, die am Nachmittag auf dem Campus "Frieden ja, Besatzung nein" forderten, sehen sie in der Ermordung Yassifs keine Lösung für den Frieden.

    Nicht die Fremdenfeindlichkeit oder der Antisemitismus in Deutschland und Europa, sondern eine fast vergessene Idee, steht plötzlich im Mittelpunkt unserer Diskussion: die Idee vom Zwei-Nationen-Staat. Diese Idee wurde vor allem in den 20er Jahren von einer Gruppe Intellektueller der Hebrew University in Jerusalem entwickelt und vertreten. Dieser "Brith Shalom" genannte Friedensbund setzte sich für ein bi-nationales Palästina ein. Er konnte sich aber letztlich nicht gegen die herrschenden Richtungen innerhalb des Zionismus durchsetzen. Zwei Nationen, Juden und Palästinenser in einem Staat kann ich mir gegenwärtig auch nicht vorstellen. Um so erstaunter bin ich, wie vehement einige meiner Studierenden diese Idee als mögliche Friedenslösung vertreten. Der Tag danach bleibt ohne Terror und Gewalt. Aber wie viele Tage danach wird es noch geben, bis Frieden ist?

    Am Abend des 23. März erhalte ich noch eine E-Mail aus Deutschland. Eine jüdische Kollegin aus Berlin erkundigte sich nach der Lage im Land. "Jedenfalls haben nun", schreibt sie, "die versteckten Antisemiten in Deutschland, von denen es auch so manche in der Politik gibt Gelegenheit, ihre Feindschaft gegenüber dem israelischen Volk und den Juden offen zu äußern".
    Von Wolfgang Frindte, am 25. März aus Haifa.

    Kontakt:
    Prof. Dr. Wolfgang Frindte
    z. Zt. Fellow am Bucerius Institut
    Universität Haifa, Israel
    E-Mail: Wolfgang.Frindte@uni-jena.de

    Über das Bucerius Institut:
    Das 2001 gegründete Institut wird von der gleichnamigen deutschen Stiftung gefördert. Sie wurde von Gerd Bucerius, dem Gründer der Wochenzeitung "DIE ZEIT", 1971 ins Leben gerufen. Das Institut fördert den deutsch-israelischen Wissenschaftleraustausch. Vorlesungsreihen etwa zu Migrations- und Integrationsfragen, Hannah Arendt und dem Problem des europäischen Anti-Amerikanismus sowie Gastvorträgen und Tagungen, sollen Einblicke in die politische und gesellschaftliche Wirklichkeit der Bundesrepublik vermitteln.


    Weitere Informationen:

    http://bucerius.haifa.ac.il


    Bilder

    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Geschichte / Archäologie, Politik, Psychologie, Recht
    überregional
    Personalia
    Deutsch


     

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