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08.11.2021 16:05

Menschliche Überreste – von Faszination und Verantwortung

Gunnar Bartsch Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Julius-Maximilians-Universität Würzburg

    In den vergangenen Jahren ist es zu einem Wandel im Umgang mit Mumien und anderen menschlichen Überresten im wissenschaftlichen wie edukativen Kontext gekommen: Vermehrt treten ethische und juristische Aspekte in den Vordergrund, aber auch Fragen nach Präsentation, Repatriierung und Reburial. Die Hanns-Seidel-Stiftung und die Professur für Museologie der Julius-Maximilians-Universität Würzburg haben in der internationalen Tagung „Mumien und andere menschliche Überreste: Ethische Herausforderungen für Forschung und Ausstellung“ die Möglichkeiten und Grenzen im Umgang mit Human Remains beleuchtet.

    Ist es die Sensationslust? Oder doch das Geschichtsinteresse? Ganz gleich, was dahintersteckt: Menschen sind fasziniert von Mumien. Bei einer internationalen wissenschaftlichen Tagung der Hanns-Seidel-Stiftung (HSS) in Kooperation mit der Professur für Museologie der Julius-Maximilians-Universität (JMU) Würzburg wurden Anfang Oktober auf Kloster Banz die ethischen, juristischen und praktischen Grenzen beim Zurschaustellen von Mumien und anderen menschlichen Überresten debattiert. Erwartungsgemäß trafen sehr unterschiedliche Perspektiven und Ansichten aufeinander, zumal sich derzeit ein weltweiter Transformationsprozess im Umgang mit menschlichen Überresten vollzieht. Aber genau das sei die Intention dieser Tagung, erklärte Oliver Jörg, Generalsekretär der Hanns-Seidel-Stiftung, der die Veranstaltung initiiert hatte. „In der Orientalischen Sammlung von Herzog Max in Bayern im Museum Kloster Banz befindet sich eine über 2300 Jahre alte Mumie. Uns als Hanns-Seidel-Stiftung ist es daher ein großes Anliegen, mit internationalen Experten und thematisch facettenreich über den würdevollen Umgang mit menschlichen Überresten zu sprechen“, sagte er bei seiner Begrüßung.

    In diesem Transformationskontext ist diese Tagung zu sehen, nachdem die Präsentation der seit vielen Jahrzehnten im Museum Kloster Banz sichtbar ausgestellten Mumie im Jahr 2018 durch eine Presseveröffentlichung in die Kritik geraten war. Unabhängig davon war schon vorher eine wissenschaftliche Untersuchung der Mumie angestoßen worden. Die naturwissenschaftlichen Forschungsergebnisse wurden nun erstmals von Prof. Dr. Dr. Andreas Nerlich (München Klinik Bogenhausen) vorgestellt, wobei sich zeigte, dass manche Aspekte der Überlieferung Korrekturen erfordern: Beispielsweise wurde die durch eine Objektbeschriftung beglaubigte Geschichte, dass Herzog Max den Mörder eines Derwischs „gefangen“ genommen habe, ins Reich der Legenden verwiesen. Ergänzend hierzu thematisiert die Sonderausstellung „Wissenschaft ENTwickelt“, die von Würzburger Bachelor-Studierenden unter Leitung von Dr. Stefanie Menke (Universität Würzburg) und Brigitte Eichner-Grünbeck (Museum Kloster Banz) erarbeitet worden ist, die museale Präsentation der Mumie und die Verantwortung des Museums. Die Diskussionen darum spielten zum Zeitpunkt der historisierenden Neugestaltung der Orientalischen Sammlung, deren Geschichte Eichner-Grünbeck in Vertretung von Dr. Alfred Grimm (München) anhand von Text- und Bildquellen veranschaulichte, im Jahr 2009 noch keine so große Rolle. Inzwischen haben sie jedoch stark an Bedeutung gewonnen, so dass Mareike Späth (Niedersächsisches Landesmuseum Hannover) das „Schutzbedürfnis“ von Human Remains und unsere kuratorische Verantwortung für die Re-Humanisierung der durch museale Routinen oft de-humanisierten Überreste und sensiblen Objekte anmahnte.

    In dieser Hinsicht plädierte Prof. Dr. Brigitte Tag (Universität Zürich) dafür, das hinter jedem Human Remain steckende individuelle Schicksal aufzuzeigen und in einem respektvollen Rahmen über damalige Werthaltungen aufzuklären, ohne selbst Werturteile zu fällen. Dabei sei es angesichts der rechtlich unklaren Lage nicht einfach, menschliche Überreste in Abgrenzung zu anderen Ausstellungsobjekten juristisch als besondere Objekte anzusprechen. Dies sollte uns jedoch nicht hindern, sie als solche zu behandeln. Hierzu gab Dr. Dr. Dirk Preuß (Bistum Hildesheim) aus ethischer Sicht mit auf den Weg, die Kriterien „Nähe und Ferne zu Lebenden“, „Wünsche der Verstorbenen“, „Erwerbungsmodus“, „Art und Umfang menschlicher Überreste“ sowie „Ziele und Formen der Präsentation“ beim Ausstellen von Human Remains zu reflektieren.

    Der zweite Tag der Veranstaltung ähnelte einer Entdeckungsreise und sensibilisierte für unterschiedliche Umgangsweisen und Bedeutungskontexte von Human Remains. Die Reise begann vor der eigenen Haustüre, bei den Heiligen Leibern in der Banzer Klosterkirche, die Prof. Dr. Günter Dippold (Bezirk Oberfranken) in seinem Überblick thematisierte. Während sichtbar präsentierte Knochen und Schädel in Beinhäusern an die eigene Sterblichkeit (Memento Mori) gemahnten, stifteten Reliquien eine Verbindung zu Gott. Demgegenüber befriedige die öffentliche Zurschaustellung von Gruftmumien allein die Sensationsgier. Da ihr Herzeigen nicht beabsichtigt war, zielt die Arbeit von Dr. Regina und Dr. Andreas Ströbl (Forschungsstelle Gruft, Lübeck) bei der Erforschung vernachlässigter oder zerstörter Grüfte auf die Wiederherstellung der früheren Sargbestattungen.

    Die nächste Sektion drehte sich um Fragen von Restitution und Repatriierung. Prof. Dr. Paul Turnbull (University of Tasmania) zeichnete nach, wie Aborigines im Zuge des Evolutionismus „entdeckt“, anthropologisch-rassenkundlich beforscht und in Form von Human Remains musealisiert wurden. Er machte aber auch deutlich, wie sich in jüngster Zeit der Widerstand der Aborigines regt, der inzwischen zu Restitutionen führte. Indessen macht die lange Verquickung von Kolonialismus und Museen deren Dekolonialisierung zu keiner einfachen Aufgabe; das Ausstellen von Human Remains solle deshalb respektvoll, kontextsensitiv und reflektiert erfolgen. Als Programmkoordinator des Museum of New Zealand Te Papa Tongarewa stellte Te Ariki Rangi Mamaku das 2003 staatlich finanzierte Repatriierungsprojekt für die Maori Communities vor. Rückführungen, die mehrheitlich aus den USA und aus Deutschland kamen, sollten ihm zufolge von „prudence, patience and partnership“ geprägt sein. Von hier aus ging es mit Dr. Anna-Maria Begerock (Institut für Mumienforschung, Madrid) nach Südamerika. Dort finden sich in den ehemals vorspanischen Andengebieten die ältesten Mumien der Welt (Chinchorro, 5050-1090 v.Chr.). Sie stellte nicht nur verschiedene Mumientypen, Bestattungsformen und Bedeutungskontexte vor, sondern ebenso deren Wiederentdeckung im 19. Jahrhundert und die Aneignung dieser lokalen Traditionen durch rezente Bevölkerungsgruppen.

    Die Kunsthistorikerin Christine Fößmeier (Moosburg) legte in ihrer Rezeptionsgeschichte dar, dass Mumien in Form von Mumia (Mumienpulver) zwar seit der Antike bekannt waren, die bis heute anhaltende Mumien-Manie aber erst mit Napoleons Feldzug einsetzte. Seither fungieren altägyptische Mumien in unterschiedlichsten Medien und kulturellen Praktiken als „Projektionsflächen für Befindlichkeiten der jeweiligen Zeit“. Einen naturwissenschaftlichen Zugang wählte Oliver Gauert (Roemer- und Pelizaeus-Museum Hildesheim), der den Wert von Mumien als „vielschichtige historische Quelle“, aber auch als „Botschafter einer anderen Kultur“ herausstellte. Für deren museale Präsentation forderte er, dass Besucher dadurch mehr über das damalige Leben als über einen toten Körper erfahren sollten. Prof. Dr. Salima Ikram (American University Cairo) verwies wiederum darauf, dass Tote in unterschiedlichen kulturellen Zusammenhängen gezeigt wurden, diskutierte sich wandelnde Pro- und Contra-Positionen und zeichnete die wechselvolle Ausstellungsgeschichte der „Royal Mummies“ vom Bulaq-Museum über das Ägyptische Museum am Tahir-Platz bis zu deren als nationales Event zelebrierten Überführung ins National Museum of Egyptian Civilisation in diesem Sommer nach. Wer nun dachte, dass über das Ausstellen ägyptischer Mumien schon alles gesagt worden sei, wurde in der von Dr. Ulrike Haerendel (Universität der Bundeswehr München) klug und einfühlsam moderierten Podiumsdiskussion eines Besseren belehrt. Prof. Dr. Regine Schulz (Roemer- und Pelizaeus-Museum Hildesheim), Karl Heinrich von Stülpnagel (Universität Leipzig) und Dr. Dr. Dirk Preuß debattierten bezüglich des Ausstellens von Mumien differenziert und engagiert, etwa über ethische Normen, die Perspektive damaliger Zeitgenossen und heutiger Besucher sowie über die Notwendigkeit der Präsentation ästhetisch schöner Mumien.

    Weiteren Sammlungskontexten widmete sich die erste Sektion am dritten Tag der Tagung. Prof. Dr. Heike Kielstein (Universität Halle-Wittenberg) und Sarah Fründt (Universität Freiburg) sprachen über anatomische und anthropologische Sammlungen. Am Beispiel der Meckelschen Sammlung wurden einerseits der Mehrwert durch die Lehre mit Human Remains, andererseits aber auch die kritische Aufarbeitung der Sammlungsgeschichte bis hin zu Restitutionen diskutiert. Die Re-Individualisierung der Überreste nannte Sarah Fründt als primäres Ziel einer interdisziplinären und transnationalen Provenienzforschung. Neben einem Überblick über anthropologische Sammlungen und Sammlungspraktiken stellte sie die Verquickung von Anthropologie- und Kolonialgeschichte heraus. Zum Abschluss ging es um die immer wieder erwähnte Anziehungskraft, die Mumien und tote Körper auf viele Besucher haben. Ihre touristische Attraktivität wurde von Elisabeth Vallazza (Südtiroler Archäologiemuseum Bozen) im Hinblick auf die Gletschermumie „Ötzi“ und die Region Südtirol diskutiert. Dr. Angelina Whalley (Institut für Plastination Heidelberg) widmete sich wiederum der medialen Aufmerksamkeit der „Körperwelten“-Ausstellungen, die heftige öffentliche Debatten ausgelöst hatten.

    Es ist kein einfaches Thema, das Gegenstand dieser internationalen Tagung war. „Der Umgang mit menschlichen Überresten wird in verschiedenen Gesellschaften unterschiedlich bewertet“, konstatierte Prof. Dr. Guido Fackler, Professor für Museologie der Universität Würzburg und Kooperationspartner der Hanns-Seidel-Stiftung. Während man in Europa beispielsweise kein Problem im Umgang mit Reliquien hat, wird das Ausstellen von Human Remains in anderen Kontexten sehr viel mehr hinterfragt. Dabei wurde es als Konsens betrachtet, dass es juristische und ethische Grenzen gibt. „Diese Tagung hat gezeigt, dass die Grenzen einer jeden Zurschaustellung von menschlichen Überresten einzeln bewertet werden müssen“, erklärte HSS-Generalsekretär Oliver Jörg abschließend.

    Hinweis: 2022 wird ein Tagungsband zur Veranstaltung „Mumien und andere menschliche Überreste: Ethische Herausforderungen für Forschung und Ausstellung“ erscheinen.


    Wissenschaftliche Ansprechpartner:

    Prof. Dr. Guido Fackler, Julius-Maximilians-Universität Würzburg, Professur für Museologie, T (0931) 31-85607, guido.fackler@uni-wuerzburg.de

    Thomas M. Klotz, Hanns-Seidel-Stiftung e.V., Referat II/4: Bildung, Hochschulen, Kultur
    Akademie für Politik und Zeitgeschehen, T: (089) 1258-264, klotz-t@hss.de


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten
    Geschichte / Archäologie, Gesellschaft, Kulturwissenschaften, Pädagogik / Bildung
    überregional
    Wissenschaftliche Tagungen
    Deutsch


     

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