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20.12.2021 17:00

Entzündung ermöglicht evolutionäre Innovation in „schwangeren“ Reisfischen

Sabine Heine Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Leibniz-Institut zur Analyse des Biodiversitätswandels

    Ein zentrales Rätsel der Evolutionsbiologie ist wie komplexe Neuheiten scheinbar aus dem Nichts entstehen können. Forschende des Leibniz-Instituts zur Analyse des Biodiversitätswandels fanden jetzt einen Beleg dafür, dass entzündliche Immunantworten das Fundament für neue Gewebe legen können. So entstand ein einzigartiges Gewebe: der Plug. Dieser ermöglicht es Reisfischmüttern ihre Eier zu tragen, bis sie schlüpfen. Eine solch „innovative Entzündung“ hat nicht nur die Fortpflanzung von Reisfischen revolutioniert, sie spielte auch eine Schlüsselrolle in der Evolution des Menschen.

    Im Laufe der Evolution entstanden viele beeindruckende Anpassungen. So haben sich beispielsweise Vorderbeine in Meeressäugern nach und nach zu Flossen und in Fledermäusen sogar zu Flügeln entwickelt. Doch die natürliche Auslese wirkt nur auf bereits bestehende Merkmale. Was es noch nicht gibt, kann also auch nicht angepasst werden. Daher bereiteten Neuheiten die scheinbar aus dem Nichts entstanden, den Forschenden lange Kopfzerbrechen.

    Neue Einblicke in dieses Rätsel lieferten nun Süßwasserfische aus dem Hochland der indonesischen Insel Sulawesi. Im Gegensatz zu den meisten Fischen überlassen bauchbrütende Reisfische ihre Eier nicht einfach ihrem Schicksal. Stattdessen tragen sie ihren Nachwuchs gut behütet auf den Bauchflossen mit sich herum. Ermöglicht wird diese erstaunliche Fortpflanzungsstrategie durch ein einzigartiges Gewebe, den sogenannten Plug. Der Plug bildet sich nach jeder Paarung im Mutterleib und verankert dort dünne Schnüre, sogenannte Filamente, an denen die Eier hängen. Während viele Fischarten Filamente bilden um ihre Eier zum Beispiel an Pflanzen zu befestigen, kommt der Plug ausschließlich bei bauchbrütenden Reisfischen vor. Doch wie kann eine so komplexe Anpassung überhaupt entstehen?

    „Die neue Erkenntnis ist: Wiederholte Entzündungen, zum Beispiel im Fortpflanzungstrakt, können wie eine Werkzeugkiste der Evolution fungieren und ermöglichten die Entstehung des Plugs bei Reisfischen,“ erläutert Dr. Julia Schwarzer, Sektionsleiterin Evolutionäre Genomik am Leibniz-Institut zur Analyse des Biodiversitätswandels (LIB). Es lassen sich zudem Parallelen zwischen bauchbrütenden Reisfischen und der Schwangerschaft bei uns Menschen ziehen, denn eine abgewandelte Entzündungsreaktion liegt auch der Evolution der Embryoeinnistung in der Gebärmutter der Säugetiere zugrunde.

    Eine Kombination aus anatomischen und genetischen Analysen des Plug Gewebes zeigte, dass Zellen und Signalwege, die am Aufbau des Plugs beteiligt sind, normalerweise vor allem Entzündungsreaktionen kontrollieren. Entzündungen treten bekanntlich nach Verletzungen auf, regen Zellteilung an, lassen Immunzellen einwandern, und Blutgefäße sprießen. Sie kontrollieren also viele Prozesse, die nicht nur der Wundheilung dienen, sondern theoretisch auch herangezogen werden könnten, um ein neues Gewebe wie den Plug aufzubauen.

    „Als die Vorfahren der heutigen Bauchbrüter begannen, ihre Eier immer länger mit sich zu tragen, verursachten die Filamente nach jeder Paarung winzige Verletzungen im Fortpflanzungstrakt,“ führt Dr. Leon Hilgers, der Erstautor der Studie und inzwischen Postdoc am LOEWE-Zentrum für Translationale Biodiversitätsgenomik, aus. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Internationalen Forschungsteams vermuten, dass die anschließenden Entzündungen im Laufe der Evolution so angepasst wurden, dass ein neues Gewebe – der Plug – entstand.

    Die Erkenntnisse der Studie, die in der internationalen Zeitschrift Current Biology veröffentlicht wurden, betreffen nicht nur die Evolution der Reisfische. Bestimmte Gene wurden unabhängig voneinander für die Säugetierplazenta und den Reisfischplug rekrutiert. Die Evolution „fand“ also ähnliche Lösungen in völlig unterschiedlichen Tieren.

    Die Nutzung der Bilder ist für Berichterstattung über diese PM kostenfrei.

    Über das LIB
    Das Leibniz-Institut zur Analyse des Biodiversitätswandels (LIB) widmet sich der Erforschung der biologischen Vielfalt und ihrer Veränderung. Seit dem 1. Juli 2021 arbeiten unsere Forschenden an zwei Standorten: dem Zoologischen Forschungsmuseum Alexander Koenig in Bonn sowie dem ehemaligen Centrum für Naturkunde in Hamburg. Generaldirektor ist Prof. Dr. Bernhard Misof, der das LIB standortübergreifend leitet.

    Über die Leibniz-Gemeinschaft
    Zur Leibniz-Gemeinschaft gehören zurzeit 96 Forschungsinstitute und wissenschaftliche Infrastruktureinrichtungen für die Forschung sowie drei assoziierte Mitglieder. Die Ausrichtung der Leibniz-Institute reicht von den Natur-, Ingenieur- und Umweltwissenschaften über die Wirtschafts-, Sozial- und Raumwissenschaften bis hin zu den Geisteswissenschaften. Leibniz-Institute arbeiten strategisch und themenorientiert an Fragestellungen von gesamtgesellschaftlicher Bedeutung Bund und Länder fördern die Institute der Leibniz-Gemeinschaft daher gemeinsam.


    Wissenschaftliche Ansprechpartner:

    Dr. Julia Schwarzer
    Sektionsleiterin Evolutionäre Genomik
    j.schwarzer@leibniz-zfmk.de
    Tel. 0228 9122 426

    Dr. Leon Hilgers
    Postdoc/Wissenschaftlicher Mitarbeiter
    Leon.hilgers@senckenberg.de
    Tel. 01575 3732230


    Originalpublikation:

    Inflammation and convergent placenta gene co-option contributed to a novel reproductive tissue
    Leon Hilgers, Olivia Roth, Arne W. Nolte, Alina Schüller, Tobias Spanke, Jana M. Flury, Ilham V. Utama, Janine Altmüller, Daisy Wowor, Bernhard Misof, Fabian Herder, Astrid Böhne and Julia Schwarzer
    Current Biology (https://doi.org/10.1016/j.cub.2021.12.004)


    Bilder

    Ein brütendes Weibchen der Reisfisch-Art Oryzias eversi.
    Ein brütendes Weibchen der Reisfisch-Art Oryzias eversi.

    Leon Hilgers

    Die Weibchen bauchbrütender Reisfisch-Arten schützen ihren Nachwuchs, indem sie ihn – durch einen Plug im Körperinneren verankert - mit sich tragen.
    Die Weibchen bauchbrütender Reisfisch-Arten schützen ihren Nachwuchs, indem sie ihn – durch einen Pl ...


    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten, Studierende, Wissenschaftler, jedermann
    Biologie
    überregional
    Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
    Deutsch


     

    Ein brütendes Weibchen der Reisfisch-Art Oryzias eversi.


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    Die Weibchen bauchbrütender Reisfisch-Arten schützen ihren Nachwuchs, indem sie ihn – durch einen Plug im Körperinneren verankert - mit sich tragen.


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