Altes muss nicht immer überholt sein. Das gilt insbesondere für die Mathematik, die oft universelle Probleme beschreibt, welche zu allen Zeiten Gültigkeit besitzen. Das haben nun auch Andreas Buchheit und Torsten Keßler eindrucksvoll erfahren. Die Mathematiker der Saar-Uni haben ein brandaktuelles Problem durch Verallgemeinerung der gut 300 Jahre alten "Euler-Maclaurin-Formel" gelöst. Ihre Erkenntnis, die sie im "Journal of Scientific Computing" veröffentlicht haben, könnte die Festkörperphysik revolutionieren.
Man stelle sich eine Welt vor, in der der Geschicklichkeitsspiele-Klassiker "Jenga" denselben Stellenwert hätte wie hierzulande der Fußball. Wer "Jenga" meisterlich beherrschte, hätte finanziell ausgesorgt und wäre ein Star. Welch ein Vorteil wäre es dabei, immer genau vorausberechnen zu können, wie sich der zunehmend instabiler werdende Bauklötzchenturm verhalten wird. Das Verhalten des Turms - also: stürzt er ein oder nicht - kann am präzisesten vorhergesagt werden, wenn man das Zusammenspiel der einzelnen Teile untereinander berechnet. Je detaillierter man hinschaut, desto genauer wird also die Vorhersage des Verhaltens insgesamt.
Zugegeben: Das Verhalten eines Bauwerks zu simulieren, das aus wenigen Dutzend Bauteilen besteht, dürfte für heutige Computer machbar sein. Gelegenheit zum Schummeln gäbe es also bereits heute für den ausgedachten Jenga-Superstar. Die Konkurrenz könnte sich allerdings noch mehr Vorteile verschaffen, indem sie noch genauer hinschaut und die Wechselwirkungen der einzelnen Atome jedes Bauklötzchens simuliert. Denn je genauer die Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Teilchen eines Ganzen untersucht sind, desto präziser kann man sein Verhalten vorhersagen. Dies wäre jedoch zum Scheitern verurteilt. Denn dann muss der Computer die Wechselwirkungen von etwa 10 hoch 23 Teilchen berechnen - viel zu viel für heutige Hochleistungsrechner.
Bis jetzt. Denn möglicherweise haben zwei junge Mathematiker der Universität des Saarlandes einen Ansatz gefunden, um solcherlei Probleme aus der Festkörperphysik, spezieller gesagt, der "langreichweitigen Wechselwirkungen", effizient zu lösen. Die denkbaren Anwendungsmöglichkeiten beschränken sich dabei natürlich nicht nur auf die Simulation von Geschicklichkeitsspielen, sondern könnten physikalische Modellierungen auf vielerlei Feldern revolutionieren, in der Astrophysik genauso wie in der Teilchenphysik und der Materialwissenschaft.
Andreas Buchheit und sein Co-Autor Torsten Keßler, beides Postdoktoranden am Lehrstuhl für Angewandte Mathematik von Professor Sergej Rjasanow, haben dabei am Anfang ihrer Arbeit "in der Wüste gestanden", wie Torsten Keßler sagt. "Man hat nur eine Idee, sonst nichts. Wohin die Reise in der Wüste gehen sollte, wussten wir am Anfang nicht", sagt der junge Wissenschaftler. Die Idee, also ihren Standpunkt in der "Wüste", bringt Andreas Buchheit so auf den Punkt: "Wir wollten das physikalische Problem der langreichweitigen Wechselwirkungen lösen." Dieses besagt, dass man die Wechselwirkungen jedes einzelnen Teilchens eines Systems mit allen anderen Teilchen berücksichtigen muss, wenn man die Eigenschaften des Systems im Ganzen präzise kennen möchte. In der Materialforschung beispielsweise ist dies ein ganz fundamentaler Baustein für die Vorhersage, wie sich ein neu geschaffener Werkstoff verhalten wird. Allerdings steigt mit jedem einzelnen Teilchen der Rechenaufwand quadratisch an. Bei einem System von 10 hoch 23 Teilchen reicht die Rechenkraft eines Superrechners dafür bei Weitem nicht aus. Er bräuchte Tausende Jahre, um auch nur die Eigenschaften einer handelsüblichen Porzellantasse zu berechnen.
Also haben sich die beiden Mathematiker, die übrigens auch noch Abschlüsse in Physik haben, Schicht für Schicht präziser an das Problem herangearbeitet. Ähnlich wie ihr mathematisches Problem, bis auf die Ebene kleinster Teilchen hinunterzugehen, haben sie sich immer genauer an die Lösung herangearbeitet. Bis sie eine überraschende Erkenntnis innehalten ließ: "Irgendwann haben wir gemerkt, dass wir unser Problem losgelöst von der Physik betrachten müssen. Nach einiger Zeit des Herumexperimentierens mit verschiedenen mathematischen Termen haben wir gemerkt, dass unser Problem offenbar eine Verallgemeinerung einer jahrhundertealten, aber hochrelevanten mathematischen Formel ist, die wir bisher gar nicht auf dem Schirm hatten", erklärt Andreas Buchheit.
Dabei handelt es sich um die sogenannte Euler-Maclaurin-Formel aus dem 18. Jahrhundert, benannt nach dem Schweizer Mathematiker Leonhard Euler und seinem schottischen Kollegen Colin Maclaurin. Beide haben die Formel unabhängig voneinander entwickelt. Grob gesagt, kann man damit ein einziges hochkomplexes Problem, wie es etwa die Beschreibung eines Systems aus Teilchen darstellt - sei es eine Tasse, eine Galaxie oder auch ein Jenga-Spiel -, in zwei weniger komplexe Teile zerlegen und somit die Berechnung des Gesamtsystems näherungsweise ermöglichen. Für den Alltag reicht das oft aus. In einer zunehmend komplexeren und wissenschaftlich immer detaillierter beschriebenen Welt hingegen stößt die Formel an ihre Grenzen.
"Diese 300 Jahre alte Formel ist auch heute noch sehr hilfreich. Allerdings stößt sie ausgerechnet bei der Berechnung langreichweitiger Wechselwirkungen an ihre Grenzen", so Andreas Buchheit. "Will man beispielsweise berechnen, wie sich Galaxien aufgrund ihrer Gravitation, die langreichweitig wirkt, gegenseitig beeinflussen, oder wie kleinste Teilchen auf atomarer Ebene miteinander wechselwirken, funktioniert die Formel nicht mehr. Daher haben wir unseren Ansatz ganz spezifisch auf dieses Problem angepasst", erklärt der Mathematiker. Nachdem sie also erkannt haben, dass ihr Problem eine bestimmte Variante der jahrhundertealten Formel von Euler und Maclaurin ist, haben Andreas Buchheit und Torsten Keßler über ein Jahr hinweg so lange mit der Formel experimentiert, bis sie auf ihr nun publiziertes Ergebnis gekommen sind.
Damit könnten sie die Grundlage dafür geschaffen haben, dass die Festkörperphysik auf lange Sicht auf solideren Beinen stehen kann als bisher. "Das Problem bei der Berechnung langreichweitiger Wechselwirkungen ist im Moment, dass die gängigen Formeln ausgerechnet dort nicht so genau funktionieren, wo sie am interessantesten sind", blickt Andreas Buchheit in die Zukunft. So könnten sich mithilfe der Formel der beiden Mathematiker aus Saarbrücken zum Beispiel neue Arten von bisher nur theoretisch denkbaren Festplatten entwickeln lassen, die alle bekannten Datenträger in Sachen Geschwindigkeit, Datensicherheit und Kapazität in den Schatten stellen könnten.
"Wir können nun solche Strukturen effizient simulieren, obwohl alle Teilchen langwellig miteinander wechselwirken", resümiert Torsten Keßler. "Es ist nun egal, ob ein System aus 1000 oder aus 10 hoch 23 Teilchen besteht. Die Berechnung seiner detaillierten Eigenschaften unter Berücksichtigung der langreichweitigen Wechselwirkungen der Teilchen dauert immer ungefähr zwei Sekunden mit unserer Formel", sagt der Wissenschaftler. Das haben Simulationen am Rechner auf Grundlage ihrer Arbeit gezeigt.
"Genauer gesagt, sind es in beiden Fällen jeweils etwa 1,8 Sekunden", schiebt Andreas Buchheit mit einem leichten Schmunzeln hinterher. So viel Präzision muss schließlich sein.
Dr. Andreas Buchheit
Tel.: (0681) 3023811
E-Mail: buchheit@num.uni-sb.de
Dr. Torsten Keßler
Tel.: (0681) 3022472
E-Mail: kessler@num.uni-sb.de
Buchheit, A.A., Keßler, T. On the Efficient Computation of Large Scale Singular Sums with Applications to Long-Range Forces in Crystal Lattices. J Sci Comput 90, 53 (2022). https://doi.org/10.1007/s10915-021-01731-5
Dr. Andreas Buchheit
Thorsten Mohr
Universität des Saarlandes/Thorsten Mohr
Dr. Torsten Keßler
Thorsten Mohr
Universität des Saarlandes/Thorsten Mohr
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten
Mathematik, Physik / Astronomie
regional
Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
Deutsch
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