idw – Informationsdienst Wissenschaft

Nachrichten, Termine, Experten

Grafik: idw-Logo
Science Video Project
idw-Abo

idw-News App:

AppStore

Google Play Store



Instanz:
Teilen: 
04.02.2022 13:20

Wie schädigt zu viel Interferon das Gehirn von ungeborenen Kindern?

Stefan Weller Stabsstelle Unternehmenskommunikation, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Universitätsmedizin Göttingen - Georg-August-Universität

    Forscher*innen der Universitätsmedizin Göttingen (UMG) erstellen erstes Tiermodell, mit dem schädigende Mechanismen von übermäßiger Interferonausschüttung auf das Gehirn untersucht werden können. Veröffentlicht in der wissenschaftlichen Open-Access-Fachzeitschrift Nature communications.

    (umg) Interferon ist der wichtigste Botenstoff, mit dem das angeborene Immunsystem die Abwehr gegen Virusinfektionen einleitet. Interferon löst in nahezu allen Körperzellen eine Reihe von Programmen aus, die der Zerstörung eines eingedrungenen Virus dienen. Bei einer übermäßigen Ausschüttung von Interferon im Rahmen einer Virusinfektion während der Schwangerschaft kann es jedoch beim ungeborenen Kind zu einer beträchtlichen Schädigung des Gehirns kommen. So können beispielsweise Infektionen mit dem Cytomegalie Virus (CMV) zur Folge haben, dass Kinder nach der Geburt von einer schweren geistigen Behinderung, epileptischen Anfällen und einer ausgeprägten Spastik betroffen sind.

    Zu einer starken Interferonausschüttung kommt es ebenfalls bei einer Reihe von genetisch-bedingten Erkrankungen. Bei den sogenannten Interferonopathien sind Defekte im Nukleinsäure-Stoffwechsel (RNA und DNA) der Zellen die Ursache. Zu dieser Erkrankungsgruppe gehört die sogenannte RNASET2-defiziente zystische Leukenzephalopathie. Die Erkrankung wurde erstmals im Jahr 2009 durch Kinderärzt*innen der Universitätsmedizin Göttingen (UMG) erkannt und beschrieben.

    Einem Göttinger Forscherteam um Dr. Matthias Kettwig, Klinik für Kinder- und Jugendmedizin (Direktorin: Prof. Dr. Jutta Gärtner) der UMG ist es nun erstmals gelungen, ein Mausmodell für die RNASET2-Erkrankung zu entwickeln. Mit Hilfe des Tier-Modells der Erkrankung konnten erste detaillierte, wissenschaftliche Einblicke in eine Interferon-vermittelte Entzündung des Gehirns gewonnen werden. Das Modell ist bisher das einzige für die Gruppe der Interferonopathien, das eine Beteiligung des Gehirns aufweist. Es stellt damit die Grundlage dar für die Entwicklung von wirksamen Therapien nicht nur für diese seltene genetische Erkrankungsgruppe, sondern auch für hirnschädigende Virusinfektionen während der Schwangerschaft.

    Forschungsergebnisse im Detail

    In ausführlichen Untersuchungen mit dem neuen Tiermodell für die RNASET2-defiziente zystische Leukenzephalopathie konnten die Göttinger Forscher*innen eine ausgeprägte Entzündungsreaktion in vielen Organen feststellen. Dabei fanden sie auch Störungen in der Blutbildung (Anämie und Thrombozytopenie), wie sie häufig bei Patient*innen dieser Erkrankungsgruppe gesehen werden. Am ausgeprägtesten war die Entzündungsreaktion im Gehirn. Hier konnten die Forscher*innen nachweisen: Entzündungszellen, wie CD8+ T-Zellen und entzündliche Monozyten, wandern in nahezu alle Bereiche des Gehirns ein.

    „CD8+ T-Zellen werden bei vielen entzündlichen und abbauenden Hirnerkrankungen gesehen. Wir waren jedoch erstaunt über die Anzahl der eingewanderten Zellen im Vergleich zu anderen Erkrankungen“, sagt Dr. Stefan Nessler, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für Neuropathologie der UMG und einer der Seniorautor*innen des Artikels. Die Forscher*innen stellten zudem fest: Die Einwanderung dieser Entzündungszellen wird von weiteren Entzündungszeichen begleitet. In Untersuchungen mit Magnet-Resonanz-Tomographie (MRT) der Mäuse zeigte sich eine für eine deutliche Entzündung des Gewebes typische Kontrastmittelaufnahme und Verlängerung der T2-Relaxation sowie eine deutliche Abnahme der Hirnmasse (Hirnatrophie). Eine Abnahme von Hirnmasse zeigte sich besonders im Hippocampus, dem Teil des Gehirns, der im Wesentlichen für die Gedächtnisfunktion verantwortlich ist. „So war es für uns nicht verwunderlich, dass sich auch die Gedächtnisfunktion bei den Tieren verschlechterte“, sagt Dr. Matthias Kettwig, Erstautor der Publikation.

    Mit Hilfe moderner Analyseverfahren, wie der Einzelzelltranskriptionsanalyse, gelang es den Forscher*innen nachzuweisen, dass nahezu alle Zelltypen des Gehirns – Nervenzellen ebenso wie Gliazellen – durch die Interferonwirkung betroffen sind. Viele dieser Zellen regulieren durch die Interferon-vermittelte Entzündungsreaktion wichtige Prozesse für die Aufrechterhaltung der Gehirnfunktion herunter. Am meisten betroffen waren dabei die Mikrogliazellen. Mikrogliazellen sind die wichtigsten ortsständigen Immunzellen im Gehirn.

    Durch weitere Untersuchungen zum genauen Ablauf der beschriebenen Entzündungsreaktion erhoffen sich die Göttinger Forscher*innen zielgerichtete Therapien entwickeln zu können, um die schädigende Wirkung des Interferons auf das Gehirn während der Entwicklung in der Schwangerschaft zu verhindern.

    WEITERE INFORMATIONEN:
    Universitätsmedizin Göttingen, Georg-August-Universität
    Klinik für Kinder- und Jugendmedizin
    Dr. Matthias Kettwig
    matthias.kettwig@med.uni-goettingen.de
    Telefon 0551 / 39-13872
    https://kinderklinik.umg.eu/


    Wissenschaftliche Ansprechpartner:

    Universitätsmedizin Göttingen, Georg-August-Universität
    Klinik für Kinder- und Jugendmedizin
    Dr. Matthias Kettwig
    matthias.kettwig@med.uni-goettingen.de
    Telefon 0551 / 39-13872
    https://kinderklinik.umg.eu/


    Originalpublikation:

    Originalveröffentlichung: Kettwig, M.; Ternka, K.; Wendland, K.; Krüger, D. M.; Zampar, S.; Schob, C.; Franz, J.; Aich, A.; Winkler, A.; Sakib, M. S.; Kaurani, L.; Epple, R.; Werner, H. B.; Hakroush, S.; Kitz, J.; Prinz, M.; Bartok, E.; Hartmann, G.; Schröder, S.; Rehling, P.; Henneke, M.; Boretius, S.; Alia, A.; Wirths, O.; Fi-scher, A.; Stadelmann, C.; Nessler, S.; Gärtner, J. Interferon-driven brain phenotype in a mouse model of RNaseT2 deficient leukoencephalopathy. Nat Commun [Online] 2021, 12 (1), 1–18. https://www.nature.com/articles/s41467-021-26880-x.
    Die Zeitschrift ist open access: Die Artikel sind für jeden frei zugänglich.


    Bilder

    Erst- und Senior-Autor*innen der Publikation: v.l. Dr. Stefan Nessler (Institut für Neuropathologie), Prof. Dr. Jutta Gärtner, Dr. Matthias Kettwig und Dr. Katharina Ternka (alle Klinik für Kinder- und Jugendmedizin), Universitätsmedizin Göttingen.
    Erst- und Senior-Autor*innen der Publikation: v.l. Dr. Stefan Nessler (Institut für Neuropathologie) ...
    Foto: umg

    MRT-Aufnahme des Gehirns einer Rnaset2-/- Maus und eines Kontrolltieres. Zu sehen ist die deutliche Größenzunahme der Nervenwasserkammern (Ventrikel, rot). Dies ist ein indirektes Zeichen für die Abnahme des Hirnvolumens der Rnaset2-/- Mäuse.
    MRT-Aufnahme des Gehirns einer Rnaset2-/- Maus und eines Kontrolltieres. Zu sehen ist die deutliche ...

    Abb.: Abteilung Funktionelle Bildgebung des DPZ, Leitung: S. Boretius


    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten
    Medizin
    überregional
    Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
    Deutsch


     

    Erst- und Senior-Autor*innen der Publikation: v.l. Dr. Stefan Nessler (Institut für Neuropathologie), Prof. Dr. Jutta Gärtner, Dr. Matthias Kettwig und Dr. Katharina Ternka (alle Klinik für Kinder- und Jugendmedizin), Universitätsmedizin Göttingen.


    Zum Download

    x

    MRT-Aufnahme des Gehirns einer Rnaset2-/- Maus und eines Kontrolltieres. Zu sehen ist die deutliche Größenzunahme der Nervenwasserkammern (Ventrikel, rot). Dies ist ein indirektes Zeichen für die Abnahme des Hirnvolumens der Rnaset2-/- Mäuse.


    Zum Download

    x

    Hilfe

    Die Suche / Erweiterte Suche im idw-Archiv
    Verknüpfungen

    Sie können Suchbegriffe mit und, oder und / oder nicht verknüpfen, z. B. Philo nicht logie.

    Klammern

    Verknüpfungen können Sie mit Klammern voneinander trennen, z. B. (Philo nicht logie) oder (Psycho und logie).

    Wortgruppen

    Zusammenhängende Worte werden als Wortgruppe gesucht, wenn Sie sie in Anführungsstriche setzen, z. B. „Bundesrepublik Deutschland“.

    Auswahlkriterien

    Die Erweiterte Suche können Sie auch nutzen, ohne Suchbegriffe einzugeben. Sie orientiert sich dann an den Kriterien, die Sie ausgewählt haben (z. B. nach dem Land oder dem Sachgebiet).

    Haben Sie in einer Kategorie kein Kriterium ausgewählt, wird die gesamte Kategorie durchsucht (z.B. alle Sachgebiete oder alle Länder).