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07.02.2022 11:00

Therapie der Amyotrophen Lateralsklerose/ALS: Therapeutischer Nutzen von Edaravone nicht reproduziert

Dr. Bettina Albers Pressestelle der DGN
Deutsche Gesellschaft für Neurologie e.V.

    Berlin - Die Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) ist eine progrediente Erkrankung des motorischen Nervensystems, die bislang nicht effektiv behandelbar ist und meistens innerhalb weniger Jahre zum Tode führt. Eine deutsche Studie [1] evaluierte die krankheitsmodifizierende Therapie mit dem Medikament Edaravone als Zusatz zur Standardbehandlung. Entgegen früheren positiven Kurzzeitergebnissen konnte über die Dauer von einem Jahr ein klinischer Nutzen auf primäre und sekundäre Endpunkte nicht belegt werden.

    Die Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) ist eine fortschreitende Motoneuronenerkrankung, die meist nach dem 50. Lebensjahr beginnt und im Verlauf weniger Jahre zu schwerer Behinderung und schließlich zum Tod führt. Wegen der relativ kurzen Überlebenszeit von 2-4 Jahren ist die Prävalenz in Deutschland mit 6.000-8.000 Betroffenen eher niedrig; nur bei ca. 5-10 % der Patientinnen und Patienten gibt es auch Verläufe über 10 Jahren. Die Inzidenz (Neuerkrankungsrate) liegt bei ca. 3,1/100.000 Personen [2]. Symptome sind Muskelschwäche, Muskelschwund und im Verlauf Lähmungen. Wenn die Muskulatur im Kopf-Halsbereich betroffen ist, kommt es zu einer Beeinträchtigung des Kauens, Schluckens und Sprechens. Grundsätzlich ist die Behandlung vor allem symptomatisch, um Beschwerden abzumildern und Komplikationen vorzubeugen. So kann bei Schwäche der Atemmuskulatur eine unterstützende Beatmungstherapie erfolgen. Das Medikament Riluzol kann als krankheitsmodifizierende Therapie das Fortschreiten verlangsamen.

    In Japan, der Schweiz und den USA ist zur intravenösen Therapie der ALS außerdem die Substanz Edaravone (ein Antioxidans) zugelassen, obwohl bislang nur Kurzzeiteffektivität in einer ALS-Subgruppe gezeigt wurde (MCI186-ALS19-Studie [3]). Eine deutsche Kohortenstudie an 12 akademischen ALS-Zentren [1], durchgeführt vom Deutschen Netzwerk für ALS / Motoneuronerkrankungen (MND-NET; 2017-2020), evaluierte nun die längerfristige Sicherheit und Wirksamkeit von Edaravone in einem sogenannten "real world setting". Alle Teilnehmenden hatten eine wahrscheinliche oder gesicherte ALS mit Krankheitsbeginn zwischen Dezember 2012 und April 2019. Von 1.440 gescreenten Patientinnen und Patienten konnten 738 in die Studie eingeschlossen werden. Die Teilnehmenden wurden in paarweiser Zuordnung („propensity score matched“) in zwei Gruppen eingeteilt. Die Therapie bestand entweder in Riluzol (Standardtherapie) oder in Riluzol plus intravenöses Edaravone. Die abschließende Analyse umfasste 324 Erkrankte, von denen 194 mit einer intravenösen Edaravone-Behandlung begonnen hatten; 141 davon erhielten mindestens vier Behandlungszyklen. Die Sicherheitsanalyse erfolgte bei allen Teilnehmenden, die mindestens eine Dosis erhalten hatten. Die Wirksamkeitsanalyse (Vergleich mit der Standardgruppe) wurde nur bei Teilnehmenden mit mindestens vier Behandlungszyklen durchgeführt. Eine Subgruppenanalyse erfolgte entsprechend der MCI186-ALS19-Studie.

    Der primäre Endpunkt waren die Erkrankungsprogression bzw. die Verschlechterung des ALS-FRS-R-Scores („ALS Functional Rating Scale-Revised“). Die sekundären Endpunkte waren die Überlebenswahrscheinlichkeit, die Zeitdauer bis zur Beatmungspflichtigkeit und Änderungen der Krankheitsprogression (vor der Behandlung versus im Studienablauf).
    In der abschließenden Analyse konnten aus jeder Gruppe 130 Teilnehmende ausgewertet werden (64% männlich, medianes Alter 57,5 Jahre). Neun Teilnehmende verstarben und fünf brachen die Behandlung ab. In der finalen Analyse unterschied sich die Krankheitsprogression in der Edaravone Gruppe (n=116, mediane Behandlungsdauer 13,9 Monate) nicht von der Standardtherapiegruppe (n=116, mediane Behandlung 11,2 Monate). Es gab auch keine signifikanten Unterschiede bei den sekundären Endpunkten oder in den Subgruppen. Nebenwirkungen wurden bei 16 % der Patientinnen und Patienten unter Therapie mit Edaravone beobachtet (vor allem Infektionen an der Einstichstelle und allergische Reaktionen).

    „Diese Kohortenstudie konnte für Edaravone i.v. als add-on-Therapie zur Standardbehandlung mit Riluzol keinen klinischen Nutzen im Langzeitverlauf über ungefähr ein Jahr belegen, was eine Enttäuschung darstellte“, so das Fazit von Ko-Autor Prof. Dr. med. Albert C. Ludolph, Ulm. „Wir sehen derzeit keine Rationale, Edaravone i.v. therapeutisch einzusetzen, und setzen nun unsere Hoffnung auf Edaravone in oraler Verabreichung – das orale Präparat wird derzeit, auch in Ulm, in einer Studie erprobt – sowie auf andere krankheitsmodifizierende Substanzen, die sich derzeit in der klinischen Prüfung befinden.“

    [1] Witzel S, Maier A, Steinbach R et al. German Motor Neuron Disease Network (MND-NET). Safety and Effectiveness of Long-term Intravenous Administration of Edaravone for Treatment of Patients With Amyotrophic Lateral Sclerosis. JAMA Neurol 2022 Jan 10; e214893 doi: 10.1001/jamaneurol.2021.4893 . Online ahead of print.
    [2] Ludolph A., Petri S., Grosskreutz J. et al., Motoneuronerkrankungen, S1-Leitlinie, 2021, in: Deutsche Gesellschaft für Neurologie (Hrsg.), Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie. Online: www.dgn.org/leitlinien (abgerufen am 07.02.2022).https://dgn.org/leitlinien/ll-030-001-motoneuronerkrankungen-2021/
    [3] The Edaravone (MCI-186) ALS 16 Study Group. A post-hoc subgroup analysis of outcomes in the first phase III clinical study of edaravone (MCI-186) in amyotrophic lateral sclerosis. Amyotroph Lateral Scler Frontotemporal Degener 2017; 18 (sup1): 11-19

    Pressekontakt
    Pressestelle der Deutschen Gesellschaft für Neurologie
    c/o Dr. Bettina Albers, albersconcept, Jakobstraße 38, 99423 Weimar
    Tel.: +49 (0)36 43 77 64 23
    Pressesprecher: Prof. Dr. med. Hans-Christoph Diener, Essen
    E-Mail: presse@dgn.org

    Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie e.V. (DGN)
    sieht sich als wissenschaftliche Fachgesellschaft in der gesellschaftlichen Verantwortung, mit ihren fast 11.000 Mitgliedern die neurologische Krankenversorgung in Deutschland zu sichern und zu verbessern. Dafür fördert die DGN Wissenschaft und Forschung sowie Lehre, Fort- und Weiterbildung in der Neurologie. Sie beteiligt sich an der gesundheitspolitischen Diskussion. Die DGN wurde im Jahr 1907 in Dresden gegründet. Sitz der Geschäftsstelle ist Berlin. www.dgn.org

    Präsident: Prof. Dr. med. Christian Gerloff
    Stellvertretender Präsident: Prof. Dr. Lars Timmermann
    Past-Präsidentin: Prof. Dr. med. Christine Klein
    Generalsekretär: Prof. Dr. Peter Berlit
    Geschäftsführer: David Friedrich-Schmidt
    Geschäftsstelle: Reinhardtstr. 27 C, 10117 Berlin, Tel.: +49 (0)30 531437930, E-Mail: info@dgn.org


    Weitere Informationen:

    http://www.dgn.org


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