Forschende weisen unerwartete Arten unter dem Eis der Arktis nach
Einzelne Exemplare von Kabeljau und Tintenfisch kommen viel weiter nördlich vor als bisher angenommen. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der internationalen MOSAiC-Expedition mit dem Forschungseisbrecher Polarstern haben Fische und Tintenfische in tiefem Wasser mitten im Arktischen Ozean gefunden. Die Ergebnisse der Universität Stockholm, des Alfred-Wegener-Instituts und weiterer Forschender des EFICA-Konsortiums werden heute in der Fachzeitschrift Science Advances veröffentlicht.
Eine große Überraschung erlebten die Fischbiologinnen und Fischbiologen im Team Ökosysteme auf der MOSAiC-Expedition: Sie fingen durch ein Loch im Meereis vier große Fische. Fast ungläubig waren sie, als sie erkannten, dass es sich bei drei der Fische um Atlantischen Kabeljau handelte, eine Raubfischart, die eigentlich nicht so weit im Norden leben sollte und als Küstenfisch schon gar nicht in einem vier Kilometer tiefen Meeresbecken, das mehr als 500 Kilometer von jeder Küste entfernt ist. Die Forschenden des EFICA-Konsortiums (European Fisheries Inventory in the Central Arctic Ocean) nahmen an MOSAiC teil, um die allererste Inventur der Fischbestände in der Zentralarktis durchzuführen.
Während der 3170 Kilometer langen Drift sammelten sie dafür auch einen einzigartigen hydroakustischen Datensatz mit dem Fischerei-Echolot der Polarstern. Er zeigt, dass Zooplankton und kleine Fische in der 200-600 Meter tiefen atlantischen Wasserschicht des Amundsenbeckens in einer sogenannten tiefen Streuschicht (Deep Scattering Layer - DSL) gehäuft vorkommen. Mit einer Tiefseekamera, die unter dem Meereis angebracht wurde, entdeckten die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen außerdem, dass große Kalmare (Gonatus fabricii) und Leuchtsardinen (Benthosema glaciale) viel weiter nördlich vorkommen als bisher bekannt.
Der auf der MOSAiC-Expedition in der Zentralarktis gefangene Atlantische Kabeljau stammte aus norwegischen Laichgründen und hatte bis zu sechs Jahre lang in arktischen Wassertemperaturen (-1 bis 2 °C) gelebt, wie spätere Laboranalysen am Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) in Bremerhaven zeigten. Der Fisch bevorzugte die atlantische Wasserschicht, eine etwas wärmere Wassermasse (0-2 °C), die weit in das arktische Becken hineinreicht. „Selbst wenn der Atlantische Kabeljau keinen eigenen zentralen arktischen Bestand hat, zeigt diese Untersuchung, dass er überleben kann. Eine kleine Anzahl von Individuen scheint genug Nahrung zu finden, um über längere Zeit zu überleben“, sagt Pauline Snoeijs Leijonmalm, Koordinatorin des EFICA-Konsortiums und Professorin für Meeresökologie an der Universität Stockholm.
Neue Erkenntnisse über die Funktionsweise des pelagischen Nahrungsnetzes
Die Studie fügt dem pelagischen Nahrungsnetz des zentralarktischen Ökosystems somit eine neue trophische Ebene hinzu - die der großen Raubfische und Kalmare. Zusammen mit den kleineren Fischen in der DSL trägt die kontinuierliche Einwanderung größerer atlantischer Fische zur potenziellen Nahrung für Säugetiere bei, da Robben und Walrosse bis in die atlantische Wasserschicht abtauchen können.
„Die Verfügbarkeit von kleinen und sogar einigen größeren Fischen in der atlantischen Wasserschicht könnte erklären, warum Robben, Walrosse und Eisbären sogar am Nordpol zu finden sind. Sowohl Fische als auch Säugetiere sind sehr selten, aber sie sind da“, berichtet der AWI-Biologe Dr. Hauke Flores, der die Durchführung der EFICA-Feldarbeit während der MOSAiC-Expedition koordinierte. „Die Untersuchung der Fisch- und Tintenfischbestände über ein ganzes Jahr im zentralen Arktischen Ozean war eine einzigartige Gelegenheit. Wir sind den Mitgliedern der Ökosystemteams auf den fünf Etappen der Expedition, den vielen freiwilligen ‚Anglern‘, Eisbärenwächtern und Besatzungsmitgliedern sehr dankbar für ihren Einsatz bei bis zu minus 30 °C. Ohne ihre Unterstützung wäre dieser einzigartige Datensatz niemals möglich gewesen", fügt Hauke Flores hinzu.
Keine nutzbaren Fischbestände
Auf der Grundlage ihrer wissenschaftlichen Ergebnisse kommen die Autoren des neuen Artikels in Science Advances zu dem Schluss, dass es - zumindest im eurasischen Becken - weder heute noch in naher Zukunft nutzbare Fischbestände gibt. „Dies war zu erwarten, da der zentrale Arktische Ozean sehr niedrige Nährstoffkonzentrationen und eine sehr geringe biologische Produktivität aufweist. Selbst wenn mit dem Wasserzufluss aus dem Atlantik mehr atlantische Fische und deren Beutetiere eingeschleppt würden, ist die Kapazität des Ökosystems der Zentralarktis, größere Fischbestände zu ernähren, zweifellos sehr begrenzt“, sagt Pauline Snoeijs Leijonmalm. Sie betont, dass es von großer Bedeutung ist, dass dieses empfindliche, aber voll funktionsfähige Ökosystem ähnlich wie die Antarktis einen robusten internationalen Schutz erhält.
Internationales Abkommen verhindert kommerzielle Fischerei
Die globale Erwärmung trifft die arktische Region härter als den Rest der Welt, und Klimamodelle sagen voraus, dass die Öffnung des zentralen Arktischen Ozeans für nicht eisbrechende Schiffe nur noch eine Frage von Jahrzehnten ist. Da der größte Teil des Gebiets aus Hochseegewässern besteht - internationalen Gewässern außerhalb der nationalen Gerichtsbarkeit - werden mögliche zukünftige menschliche Aktivitäten hier auf nationaler und internationaler politischer Ebene diskutiert.
„Normalerweise geht die Ausbeutung neu zugänglicher natürlicher Ressourcen der wissenschaftlichen Forschung und dem Aufbau eines nachhaltigen Managements voraus, und international gemeinsam genutzte Fischbestände auf hoher See sind besonders anfällig für Überfischung“, sagt Pauline Snoeijs Leijonmalm.
Im Sinne des Vorsorgeprinzips haben Kanada, China, Grönland (Königreich Dänemark), Island, Japan, Norwegen, Russland, Südkorea, die USA und die Europäische Union das Übereinkommen zur Verhinderung der unregulierten Hochseefischerei im zentralen Arktischen Ozean (CAO) ausgehandelt, das am 25. Juni 2021 in Kraft trat. Die zehn Partner des Abkommens werden in Kürze ein großes gemeinsames wissenschaftliches Forschungs- und Überwachungsprogramm starten, um neue Daten über Fischbestände und das Ökosystem im zentralen Arktischen Ozean zu sammeln. Die EU hat diese Arbeit bereits aufgenommen, indem sie die Ökosystemforschung des EFICA-Konsortiums auf der MOSAiC-Expedition (2019-2020) und die Synoptic Arctic Survey-Expedition mit dem schwedischen Eisbrecher Oden (2021) finanziert. Die neue Veröffentlichung in Science Advances ist die erste wissenschaftliche Arbeit, die neue Felddaten im Zusammenhang mit dem Abkommen präsentiert.
„Dieses Abkommen verhindert für mindestens 16 Jahre jegliche kommerzielle Fischerei und stellt die Wissenschaft an die erste Stelle, indem es wissenschaftliche Bewertungen des Zustands und der Verbreitung möglicher Fischbestände im zentralen Arktischen Ozean und des sie unterstützenden Ökosystems gewährleistet - eine kluge politische Entscheidung und ein guter Anfang auf dem Weg zu einem umfassenden Schutz“, sagt Pauline Snoeijs Leijonmalm.
Originalpublikation:
Pauline Snoeijs-Leijonmalm, Hauke Flores, Serdar Sakinan, Nicole Hildebrandt, Anders Svenson, Giulia Castellani, Kim Vane, Felix C. Mark, Céline Heuzé, Sandra Tippenhauer, Barbara Niehoff, Joakim Hjelm, Jonas Hentati Sundberg, Fokje L. Schaafsma, Ronny Engelmann & the EFICA-MOSAiC Team: Unexpected fish and squid in the central Arctic deep scattering layer. Science Advances (2022).
SPERRFRIST: 20:00 Uhr MEZ (2pm EST) am Freitag, 18. Februar 2022
Hinweise für Redaktionen
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Ihr Ansprechpartner ist Dr. Hauke Flores (Tel.: 0471 4831-1444; E-Mail: hauke.flores(at)awi.de), sowie in der Pressestelle des Alfred-Wegener-Instituts Dr. Folke Mehrtens (Tel: 0471 4831-2007; E-Mail: medien(at)awi.de).
Hintergrundinformationen zu MOSAiC
Während der MOSAiC-Expedition erforschten Wissenschaftler aus 20 Nationen die Arktis im Jahresverlauf. Von Herbst 2019 bis Herbst 2020 driftete der deutsche Eisbrecher Polarstern dazu eingefroren im Eis durch das Nordpolarmeer. MOSAiC wurde unter Leitung des Alfred-Wegener-Instituts, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) realisiert. Damit dieses einzigartige Projekt gelingen und möglichst wertvolle Daten gewonnen werden konnten, arbeiteten über 80 Institute in einem Forschungskonsortium zusammen. Die Gesamtkosten der Expedition beliefen sich auf rund 150 Millionen Euro, die größtenteils vom Bundesministerium für Bildung und Forschung finanziert wurden.
Das Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) forscht in der Arktis, Antarktis und den Ozeanen der gemäßigten sowie hohen Breiten. Es koordiniert die Polarforschung in Deutschland und stellt wichtige Infrastruktur wie den Forschungseisbrecher Polarstern und Stationen in der Arktis und Antarktis für die internationale Wissenschaft zur Verfügung. Das Alfred-Wegener-Institut ist eines der 18 Forschungszentren der Helmholtz-Gemeinschaft, der größten Wissenschaftsorganisation Deutschlands.
https://www.awi.de/ueber-uns/service/presse.html
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten
Biologie, Meer / Klima
überregional
Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
Deutsch
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