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18.02.2022 11:15

Pflanzen unter Narkose

Robert Emmerich Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Julius-Maximilians-Universität Würzburg

    Die fleischfressende Venusfliegenfalle lässt sich mit Äther betäuben. Dabei zeigen sich überraschende Parallelen zu Narkosen beim Menschen.

    Die Medizin verfügt über ein breites Repertoire an Anästhetika, das Patienten schmerzhafte Behandlungen besser ertragen oder sogar verschlafen lässt. Bereits 1842 wurde bei einer Zahnbehandlung in New York Äther verwendet. Seitdem diente dieses Anästhetikum über 100 Jahre als eines der Hauptnarkosemittel weltweit.

    Bemerkenswerterweise ist die Betäubung auch bei Pflanzen möglich. Claude Bernard wies schon 1878 nach, dass die berührungsempfindliche Pflanze Mimosa pudica unter dem Einfluss von Äther auf Berührungen nicht reagierte, indem sie die Blätter schloss. Er schloss daraus, dass Pflanzen und Tiere eine gemeinsame biologische Essenz haben müssen, die durch Betäubungsmittel gestört wird.

    Äthernarkosen wurden bei Operationen, Geburten und in der Palliativmedizin eingesetzt, um Patienten den Schmerz zu nehmen. Allerdings konnte der genaue Wirkmechanismus niemals aufgeklärt werden. Selbst bei modernen Anästhetika ist oft unklar, wie und wo sie wirken. Ein Grund dafür ist sicherlich, dass der Mensch ein sehr sensibles Forschungsobjekt darstellt.

    Venusfliegenfalle besitzt ein ausgeprägtes System zur Reizweiterleitung

    Hier haben sich nun Pflanzenforscher der Julius-Maximilians-Universität (JMU) Würzburg eingeschaltet. Das Team von Professor Rainer Hedrich ist bei der Erforschung der Venusfliegenfalle seit über zehn Jahren führend. Ihm gelangen schon viele bahnbrechende Einblicke in das Leben dieser fleischfressenden Pflanze.

    „Anders als die meisten anderen Pflanzen ist die Venusfliegenfalle besonders empfindlich gegenüber Berührungen. Auf solche Reize hin werden Elektroimpulse ausgelöst und extrem schnell weitergeleitet, um tierische Beute zu fangen“, erklärt Hedrich.

    Die elektrischen Impulse (Aktionspotentiale, APs) der Fliegenfalle sind mit denen unseres Nervensystems vergleichbar. Zwar besitzen Pflanzen kein ausgeprägtes Nervensystem. Sie leiten aber elektrische Informationen in ihrem Leitgewebe weiter, um die Falle zum Beispiel blitzschnell zu schließen: „Wir konnten 2016 zeigen, dass die Venusfliegenfalle, wie ein Mensch, Berührungen nicht nur wahrnehmen, sondern auch die gefeuerten APs zählen und sich merken kann“, sagt der Würzburger Professor. „Da lag es nahe zu testen, ob und wie sich Äther auf den Berührungssinn der fleischfressenden Pflanze auswirkt“.

    Schutzvorkehrungen gegen Explosionen waren zu treffen

    Vor der Narkotisierung der Pflanze waren allerdings einige knifflige Hürden zu überwinden, um das hochexplosive Äther-Gas einsetzen zu können.

    „Explosionen mit Todesfolge kamen beim medizinischen Äther-Einsatz leider immer wieder vor. Deswegen ließen wir uns eine explosionsgeschützte Apparatur anfertigen, mit der wir sicher arbeiten konnten, ohne das ganze Institut in die Luft zu sprengen“, berichtet Dr. Sönke Scherzer mit einem Schmunzeln.

    So stellten die Würzburger Forscher fest, dass sich die Venusfliegenfalle, ähnlich wie ein Mensch, narkotisieren lässt und dass sie in dieser Zeit nicht auf Berührungen reagiert. Untersuchungen des Fallen-Gedächtnisses zeigten sogar, dass sich die Falle nicht an Berührungen während der Narkose „erinnern“ kann. Somit unterscheidet sich ihre Reaktion nicht vor der eines Patienten, wie Hedrichs Team im Journal Scientific Reports berichtet.

    Venusfliegenfalle gibt Aufschluss über den Wirkmechanismus von Äther

    „Richtig spannend wurde die Sache aber, als wir feststellten, dass die betäubten Fallen Berührungen zwar lokal wahrnehmen, sie aber nicht weiterleiten können“, sagt Sönke Scherzer, der Erstautor der Veröffentlichung.
    Jede Berührung der Sinneshaare führt bei der Venusfliegenfalle zum Ausschütten des Signalmoleküls Kalzium. Dieses Molekül spielt auch bei der Reizweiterleitung im Menschen eine entscheidende Rolle.

    Bei der Pflanze allerdings konnten die JMU-Forscher das Kalzium-Signal mittels Expression genetisch kodierter Kalzium-Sensoren sichtbar machen. Dabei stellte sich heraus, dass in den Sinneshaaren von narkotisierten Pflanzen nach einer Berührung immer noch das Kalzium-Signal entsteht, dass es aber diesen Berührungssensor nicht mehr verlässt. Äther unterbricht also die Reizweiterleitung.

    „Nun wussten wir endlich, in welchem Gewebe der Äther wirkt“, so Sönke Scherzer. Um aber den genauen Wirkmechanismus der Narkose zu verstehen, haben die Würzburger Forscher diese Haare im Detail untersucht und dabei herausgefunden, dass nur die Haare von ausgewachsenen Fallen das schnelle Kalzium-Signal auf Berührungen hin auslösen. Unreife Fallen hingegen haben dieses Signal nicht und können daher auch keine Beute fangen.

    Was zeichnet ausgereifte Fallen aus?

    „Nun haben wir geschaut, wie sich diese beiden Entwicklungsstadien unterscheiden und sind dabei auf ein interessantes Gen gestoßen, dass sich ausschließlich in den Haaren ausgewachsener Fallen findet“, so Rainer Hedrich. Hierbei handelt es sich um das Gen für einen Glutamatrezeptor, der anscheinend für die schnelle Reizweiterleitung verantwortlich ist. Diese Rezeptoren nehmen den Nervenbotenstoff Glutamat wahr und finden sich auch beim Menschen, wo sie in den Synapsen bei der Erregungsübertragung beteiligt sind.

    Hier bekamen die Pflanzenforscher Unterstützung von Professor Manfred Heckmann, einem Experten für tierische Glutamatrezeptoren an der JMU Würzburg. „Tatsächlich sehen wir Kalzium-Signale, wenn wir die Fallen von außen mit Glutamat stimulieren“, so Heckmann. „Allerdings findet diese Reaktion nicht bei narkotisierten Fallen oder unreifen Fallen ohne den Glutamatrezeptor statt.“ Somit erscheint der Glutamatrezeptor als wahrscheinliches Ziel bei einer Äther-Narkose. Wenn dieser Rezeptor blockiert wird, kommt auch die Reizweiterleitung zum Erliegen.

    „Jetzt gilt es herauszufinden, was die Glutamatrezeptoren von Tieren und Pflanzen gemeinsam haben und wie sie sich unterscheiden“, skizziert Heckmann laufende experimentelle Arbeiten.

    „Wir zeigen mit dieser Arbeit, dass die Venusfliegenfalle nicht nur der Pflanzenforschung, sondern auch der Medizin als Studienobjekt dienen kann. Mit ihr könnte es möglich sein, den Wirkmechanismus von Arzneimitteln zu untersuchen, ohne Tierversuche durchführen zu müssen“, stellt Scherzer in Aussicht.


    Wissenschaftliche Ansprechpartner:

    Prof. Dr. Rainer Hedrich, Lehrstuhl für Botanik I (Pflanzenphysiologie und Biophysik), Universität Würzburg, T +49 931 31-86100, hedrich@botanik.uni-wuerzburg.de


    Originalpublikation:

    Sönke Scherzer et al.: Ether anesthetics prevents touch-induced trigger hair calcium-electrical signals excite the Venus flytrap”, Scientific Reports, 2022, Open Access: www.nature.com/articles/s41598-022-06915-z


    Bilder

    Eine betäubte Venusfliegenfalle (oben) kann sich nicht mehr schließen, wenn sie zum Beispiel von einer Ameise stimuliert wird. Grund hierfür ist, dass Äther die Ausbreitung eines Kalziumsignals vom sensorischen Haar in die Falle verhindert (rechts).
    Eine betäubte Venusfliegenfalle (oben) kann sich nicht mehr schließen, wenn sie zum Beispiel von ein ...
    Sönke Scherzer
    Universität Würzburg


    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten, jedermann
    Biologie, Medizin
    überregional
    Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
    Deutsch


     

    Eine betäubte Venusfliegenfalle (oben) kann sich nicht mehr schließen, wenn sie zum Beispiel von einer Ameise stimuliert wird. Grund hierfür ist, dass Äther die Ausbreitung eines Kalziumsignals vom sensorischen Haar in die Falle verhindert (rechts).


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