Neue Erkenntnisse zeigen, dass die stärkere Einbindung von Bürger:innen in die frühen Phasen von Forschungsstudien der Schlüssel zu neuen, innovativen Perspektiven und zur Förderung wirkungsvoller Forschung sein könnte. Diese wurden nun in der Zeitschrift Research Policy veröffentlicht.
Laut den Autor:innen könnte die Einbindung von Bürger:innen bei der Entwicklung der Forschungsagenda sowie bei der Formulierung konkreter Forschungsfragen und -hypothesen Vorteile gegenüber dem derzeitigen Ansatz haben, bei dem Wissenschaftler:innen über Forschungsfragen entscheiden und die Ergebnisse später an die Öffentlichkeit weitergeben.
Diese Erkenntnisse stammen aus einer Studie von Henry Sauermann, Professor für Strategie an der ESMT Berlin, zusammen mit Kolleginnen von der Copenhagen Business School und der österreichischen Ludwig Boltzmann Gesellschaft, darunter die wissenschaftliche Leiterin des Open Innovation in Science Center Marion Poetz. Die Autor:innen wollten herausfinden, wie Forschungsfragen aussehen, die Bürgerwissenschaftler:innen entwickeln und wie sich diese Fragen von Forschungsfragen unterscheiden, die von Wissenschaftler:innen im Rahmen des üblichen Forschungsprozesses gestellt werden.
Die Forscher:innen analysierten zwei Projekte in den Gesundheitswissenschaften, bei denen Forschungsfragen per Crowdsourcing generiert wurden, um neue Forschungsprojekte zu ermitteln. Die Fragen wurden von einer Vielzahl an Personen eingereicht, darunter Patient:innen und ihre Angehörigen, aber auch medizinisches Fachpersonal wie Krankenschwestern und Ärzt:innen. Zum Vergleich zogen die Forscher:innen Forschungsfragen aus wissenschaftlichen Konferenzbeiträgen heran.
Unabhängige Wissenschaftler:innen aus den Gesundheitswissenschaften bewerteten daraufhin beide Fragengruppen im Hinblick auf Neuartigkeit, wissenschaftliche Bedeutung und praktische Relevanz, wobei sie die Herkunft der Forschungsfragen nicht kannten. Die Ergebnisse zeigen, dass die Bewertenden die Fragen aus dem Crowdsourcing im Durchschnitt als weniger neu und wissenschaftlich relevant einstuften, dafür aber eine ähnliche oder höhere praktische Bedeutung hatten.
Nachdem die Forschenden die Fragen einer Vorauswahl unterzogen hatten, übertrafen die besten 20 % der von Bürger:innen entwickelten Forschungsfragen die der Fachleute auf allen Dimensionen. Darüber hinaus waren die Fragen aus dem Crowdsourcing-Prozess tendenziell interdisziplinärer und kombinierten häufig Konzepte aus verschiedenen medizinischen Bereichen oder bezogen Ideen von außerhalb der Medizin mit ein.
"Viele Wissenschaftler:innen versuchen, gesellschaftlich relevante Probleme zu lösen, etwa im Bereich der Medizin. Aber sie stoßen dabei oft an Grenzen. Wissenschaftler:innen können sich dabei im Kreis drehen, indem sie sich mit denselben Problemen befassen und ähnliche Lösungsansätze versuchen. Betroffene Bürger:innen bringen eine neue Perspektive ein und können möglicherweise der Schlüssel zu neuen Forschungsansätzen und praktisch relevanten Lösungen sein", so Professor Sauermann.
Die Forscher:innen sind sich darüber im Klaren, dass es nicht immer sinnvoll ist, Bürger:innen in die Entwicklung von Forschungsfragen einzubinden, um die Richtung wissenschaftlicher Forschung mitzugestalten. In einigen Fällen könnte dies jedoch der Schlüssel zu einem besseren Verständnis eines Themas sein und eine andere Perspektive bieten. Es sind weitere Forschungsarbeiten erforderlich, um herauszufinden, welche Bürger:innen besonders wertvolle Beiträge für die Wissenschaft leisten und wie die Vielfalt der Mitwirkenden die Ergebnisse des Crowdsourcing beeinflusst.
"Wissenschaftler:innen sollten sich überlegen, in welchen Phasen des Forschungsprozesses Bürgerwissenschaflter:innen behilflich sein können, um effektiver zu forschen und letztlich eine größere Wirkung mit ihrer Forschung zu erzielen. Die Einbeziehung von Bürger:innen oder bestimmten Untergruppen wie Patient:innen und medizinischen Fachkräften von Beginn eines Forschungsprozesses an kann dazu beitragen, Forschungsprojekte in neue Richtungen zu lenken und ihre Wirksamkeit bei der Lösung realer Probleme zu erhöhen", sagt Professor Marion Poetz.
Angewandte Forschungsprojekte, die sich mit gesellschaftlichen Themen befassen, können am meisten davon profitieren, wenn sie Ideen und Forschungsfragen von Bürger:innen einbeziehen. Solche Projekte gibt es häufig in der Medizin, aber auch in Bereichen, die mit Nachhaltigkeit zu tun haben, wie Umweltwissenschaften, Bildung und wirtschaftliche Entwicklung. Aber auch in Bereichen wie Astronomie, Biologie oder Quantenphysik haben Bürger:innen wichtige Beiträge geleistet. Dies deutet auf viele weitere Möglichkeiten hin, die „Weisheit der Masse“ zu nutzen, um die wissenschaftliche Forschung voranzubringen.
Das vollständige Papier ist Open Access unter https://doi.org/10.1016/j.respol.2022.104491 verfügbar.
Ludwig Boltzmann Gesellschaft
Die Ludwig Boltzmann Gesellschaft (LBG) stößt gezielt neue Forschungsthemen im Bereich Gesundheit und Medizin in Österreich an. Die LBG betreibt zusammen mit akademischen und anwendenden Partnern aktuell 20 Ludwig Boltzmann Institute und entwickelt und erprobt neue Formen der Zusammenarbeit zwischen der Wissenschaft und nicht-wissenschaftlichen AkteurInnen wie Unternehmen, dem öffentlichen Sektor und der Zivilgesellschaft. Gesellschaftlich relevante Herausforderungen, zu deren Bewältigung Forschung einen Beitrag leisten kann, sollen frühzeitig erkannt und aufgegriffen werden. Teil der LBG sind das LBG Open Innovation in Science Center, das das Potenzial von Open Innovation für die Wissenschaft erschließt, und das LBG Career Center, das 250 PhD-StudentInnen und Postdocs in der LBG betreut.
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, Wissenschaftler
Ernährung / Gesundheit / Pflege, Gesellschaft, Medizin
überregional
Forschungs- / Wissenstransfer, Forschungsergebnisse
Deutsch
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