Ein internationales Forschungsteam aus Tübingen und Cold Spring Harbor (New York) hat eine bahnbrechende Methode gefunden, mit der das typische Tempo von Veränderungen bestimmt werden kann. Die neue Methode vermeidet bisherige systematische Fehler bei der Schätzung von Zeitskalen, z. B. bei der neuronalen Aktivität im Gehirn. Die Ergebnisse werden jetzt in der Fachzeitschrift Nature Computational Science veröffentlicht. In ersten Anwendungen auf neuronale Aufzeichnungen aus der Sehrinde beweist sich die Methode als ein leistungsfähiges Instrument für die Neurowissenschaften und viele andere Disziplinen.
Jeder Prozess in der Natur hat sein eigenes Tempo: Neuronen brauchen Millisekunden für ihren Signalaustausch, demografischer Wandel geschieht über Jahre hinweg, und Klimawandel ist eine Frage von Jahrzehnten oder sogar Jahrhunderten. Den Zeitraum, den ein Prozess typischerweise für eine Änderung braucht, nennt man seine Zeitskala, und um die Zeitskala zu begreifen ist ein tiefes Verständnis vom Prozess selbst nötig.
Wie lange dauert Veränderung typischerweise?
In der Wissenschaft der Statistik ist diese Idee der Zeitskala sehr präzise gefasst. Um beim Beispiel der neuronalen Prozesse zu bleiben: der Zustand des Gehirns zum jetzigen Zeitpunkt ist abhängig von seinem Zustand vor einer Weile. Wie stark dieser Einfluss ist, drückt sich in der zeitlichen Korrelation aus. Diese Korrelation nimmt im Laufe der Zeit ab: je mehr Zeit verstrichen ist, desto schwächer die Abhängigkeit. Genau das ist die Zeitskala: eine Zahl, die beschreibt, wie schnell die Korrelation typischerweise abnimmt, wie schnell also das Gehirn seinen früheren Zustand vergisst.
In der Praxis kann es schwierig sein, Zeitskalen aus empirischen Daten zu bestimmen. Normalerweise berechnet man, wie sehr die gemessene Gehirnaktivität zu verschiedenen Zeitpunkten korreliert und bestimmt aus dieser abnehmenden Abhängigkeit die Zeitskala.
Den Kuchen nachbacken, um seinen Zuckergehalt zu bestimmen
„Leider ist diese Art Zeitskalenmessung fehlerhaft und kann zu irreführenden Ergebnissen führen”, erklärt Roxana Zeraati, Forscherin an der Universität Tübingen und am Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik. „Das Problem ist, dass die empirischen Daten immer nur über endliche (oft kurze) Zeit hinweg erhoben werden. Daher wird die durchschnittliche Abhängigkeit von Vorkommnissen zu verschiedenen Zeitpunkten systematisch unterschätzt.” Zeraati betont, wie wichtig es ist, Zeitskalen korrekt zu messen: „Viele neurowissenschaftlichen Ergebnisse beruhen auf präzisen Schätzungen von Zeitskalen. Um nur ein Beispiel zu nennen: Wir glauben, dass abweichende Zeitskalen mit Autismus in Verbindung stehen. Aber man war sich bislang nicht darüber im Klaren, dass die Zeitskalen möglicherweise falsch geschätzt werden.“
Daher entwickelten Zeraati und ihre Kolleginnen eine neuartige Idee zur Ermittlung von Zeitskalen: Die Forscherinnen schlagen vor, mit Hilfe eines Computermodells neue, künstliche Daten zu erzeugen, die den empirischen Daten genau entsprechen. Anna Levina, die als Juniorprofessorin in Tübingen Zeraatis Doktorarbeit betreut, erläutert die Methode anhand einer einfachen Analogie: “Wenn Sie Schwierigkeiten haben, den Zuckergehalt im Kuchen Ihrer Großmutter chemisch zu bestimmen – vielleicht weil die Glasur in den Kuchen gesickert ist und die Messungen verfälscht – können Sie stattdessen den Kuchen in mehreren Varianten mit unterschiedlichem Zuckergehalt nachbacken. Der Kuchen, der dem Original am nächsten kommt, gibt dann Aufschluss darüber, wie viel Zucker im Kuchen der Großmutter war, eben weil Sie ja wissen, wie viel Zucker Sie für Ihre eigenen Kuchen verwendet haben.“
Untersuchungen des Gedächtnisses
Die Wissenschaftlerinnen testeten anschließend ihre neue Methode an neuronalen Daten aus der Sehrinde, die für eine frühere Studie aufgenommen worden waren. „Wir fragten uns, ob spontane Fluktuationen der neuronalen Aktivität von einer einzigen Zeitskala bestimmt werden oder ob der beobachtbare Prozess vielleicht die Summe mehrerer Prozesse mit unterschiedlichen Zeitskalen ist", sagt Levina. „In diesem speziellen Fall sahen wir, dass zwei verschiedene intrinsische Zeitskalen in den Prozess im Gehirn involviert waren – so etwas konnte noch nie zuvor beobachtet werden.“
Zeraati ergänzt: “Auf ähnliche Weise können wir fast jeden intrinsischen Prozess im Gehirn analysieren, zum Beispiel, wie sich Neuronen an die Vergangenheit erinnern. Das macht unsere neue Schätzmethode zu einem unglaublich wertvollen Werkzeug für Neurowissenschaften und andere Disziplinen.“
Anna Levina
anna.levina@uni-tuebingen.de
Roxana Zeraati, Tatiana A. Engel, Anna Levina: A flexible Bayesian framework for unbiased estimation of timescales. Nature Computational Science, 24 March 2022, DOI 10.1038/s43588-022-00214-3, https://www.nature.com/articles/s43588-022-00214-3
https://www.nature.com/articles/s43588-022-00214-3
Neuronen in der Großhirnrinde einer Maus
By ALol88 via Wikimedia Commons
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Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, Studierende, Wissenschaftler, jedermann
Biologie, Informationstechnik, Mathematik
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Forschungsergebnisse
Deutsch
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