Experten der Universitätsmedizin Göttingen und des Baylor College of Medicine in Houston, Texas, mit Übersichtsartikel zum aktuellen Stand der Forschung: Erkenntnisse aus 20 Jahren Junctophilin-Forschung, neue molekulare Analysen und Modelle sowie zur Rolle von Junctophilinen bei der Entstehung menschlicher Krankheiten. Veröffentlicht mit Spotlight Cover in der renommierter Fachzeitschrift Physiological Reviews.
(umg/mbexc) Junctophiline (JPH) sind Mitglieder einer Familie von Proteinen, die in vermutlich allen elektrisch erregbaren Zellen des Gehirns, des Nervensystems und Muskeln vorkommen. Sie spielen eine zentrale Rolle für verschiedene bedeutsame zelluläre Funktionen in den erregbaren Zellen der quergestreiften Skelett- und Herzmuskulatur, der glatten Gefäßmuskulatur sowie des Nervensystems. Junctophiline verbinden die Plasmamembran dieser Zellen mit den Membranen des Sarkoendoplasmatischen Retikulums (SER), das als intrazellulärer Kalzium-Speicher maßgeblich an der Aktivierung der Muskelkontraktion beteiligt ist. Dadurch verkürzt sich der Informationsweg zwischen Zelloberfläche und SER-Organelle auf circa 15 Nanometer Weite. Spannungsabhängige Kalziumkanäle in der Zellmembran können so mit intrazellulären SER-Kalzium-Freisetzungskanälen (Ryanodin-Rezeptoren) funktionell gekoppelt werden und dadurch Aktionspotentiale in eine schnelle intrazelluläre Kalium-Signalkette übersetzen.
Die Highlights aus 20 Jahren Junctophilin-Forschung mit Fokus auf neuesten Erkenntnissen und Modellen haben jetzt Prof. Dr. Stephan E. Lehnart vom Herzforschungszentrum der Universitätsmedizin Göttingen (UMG), Mitglied des Exzellenzclusters Multiscale Bioimaging: Von molekularen Maschinen zu Netzwerken erregbarer Zellen (MBExC), des Sonderforschungsbereichs SFB 1190 und des Deutschen Zentrums für Herz-Kreislaufforschung, sowie Prof. Dr. Xander H.T. Wehrens vom amerikanischen Baylor College of Medicine in Houston, Texas, USA, zusammengetragen. Ihr Übersichtsartikel liefert einen umfassenden Überblick über die Junctophilin-Proteinfamilie und deren evolutionäre Entwicklung, Biogenese, Bindungspartner und differentielle funktionelle Rollen in verschiedenen elektrisch erregbaren Zellen. Darüber hinaus stellen Lehnart und Wehrens neue Erkenntnisse über die molekulare Struktur und die pathogenetische Rolle menschlicher Genvarianten zusammen. Dabei berücksichtigen sie auch Forschungsergebnisse zum Beitrag genetisch fehlerhafter oder krankheitsbedingt verringerter JPH-Proteine bei der Entstehung eines breiten Spektrums menschlicher Organpathologien. Die Arbeit wurde in der renommierten amerikanischen Fachzeitschrift „Physiological Reviews“ veröffentlicht und mit einem Spotlight Cover gewürdigt.
Junctophiline und ihre molekulare Funktion
Seit der Entdeckung der Junctophiline im Jahr 2000 sind überraschend unterschiedliche zelluläre Rollen dieser Proteinfamilie in gesunden und kranken Geweben beschrieben worden. Vier Varianten des JPH-Proteins (JPH1-4) kommen in den SER-Membranen von verschiedenen Muskel- und Nervenzellen vor. Vor allem JPH1-3 sind nach der aktuellen Publikationslage entscheidend für die Bildung und molekulare Komposition von zellspezifischen Membrankomplexen. Sie tragen somit entscheidend zur räumlichen Organisation funktioneller Untereinheiten, sog. Kalziumsignal-Nanodomänen, im Zellinneren bei. Die einzigartige und evolutionär hoch-konservierte Proteinstruktur ist essentiell für ihre Fähigkeit, Zellmembranen zu Komplexen zu verbinden, sowie für die präzise räumliche und zeitliche Kontrolle der Aktivität elektrisch erregbarer Zellen. Eine veränderte Junctophilin-Bildung oder -funktion wirkt sich auf die Verarbeitung von Kalziumsignalen und damit auch auf die überlebenswichtige zelluläre elektrische Erregbarkeit und Reaktion auf äußere Einflüsse aus, wie zum Beispiel bei vermehrtem Stress im Herzen.
Die Rolle von Junctophilin-Genvarianten bei Erkrankungen der Skelettmuskulatur, des Herzens und des Gehirns
Fehlerhaft gebildete Junctophilin-Proteinformen sind bei verschiedenen vererbbaren oder spontan auftretenden Gendefekten an muskulären, kardialen und neurologischen Erkrankungen beteiligt. Eine vererbbare Variante im JPH1-Gen spielt bei einer seltenen Form der Charcot-Marie-Tooth-Krankheit eine Rolle. Bei der Erkrankung kommen Nervenimpulse aus dem Gehirn nicht mehr ausreichend bei den betroffenen Skelettmuskeln an. Dies verursacht auf Dauer einen Muskelschwund bzw. Muskeldystrophie. Mutationen im JPH2-Gen können verschiedene Formen von Kardiomyopathien verursachen. Diese genetisch-bedingten Veränderungen der Herzmuskulatur sind durch eine krankhafte Verdickung der linken Herzkammer (linksventrikuläre Hypertrophie) und ein erhöhtes Risiko für Herzrhythmusstörungen gekennzeichnet. Damit verbunden kommt es oft zu Störungen des intrazellulären Kalziumhaushalts in junctionalen Membrankomplexen. Diese gehen mit einer Vergrößerung der Herzmuskelzellen (zellulären Hypertrophie) und einer erhöhten Neigung für eine elektrische Membraninstabilität ein-her. Schließlich verursachen komplexe Genvarianten von JPH3 eine Huntington-ähnliche Krankheit (Huntington Disease-like 2; HDL-2). Typisch für die schwere neuro-degenerative Erkrankung sind Bewegungs-, psychiatrische und kognitive Anomalien.
Patient*innen mit nicht genetisch bedingten, sogenannten erworbenen, Formen der Herzschwäche und Kardiomyopathie weisen dagegen oft einen signifikant verminderten JPH2-Proteinspiegel auf. Der Verlust von JPH2 führt zu räumlichen Veränderungen junctionaler Membrankomplexe und einer verminderten Zahl dieser funktionell bedeutsamen Kalzium-Signaldomänen. Die elektrische Erregungs-Kontraktions-Kopplung in Herzmuskelzellen wird dadurch stark beeinträchtigt und bewirkt eine kontraktile Dysfunktion des Herzmuskels sowie eine Neigung zu Herzrhythmusstörungen.
Weitere intensive Forschung erforderlich
„Die Grundlagenforschung liefert vermehrt Erkenntnisse zur Rolle der Junctophilin-Genvarianten in verschiedenen Zelltypen und elektrisch kontrollierten Organen, wie Herz und Hirn, und zum direkten Zusammenhang zwischen JPH-Fehlfunktion und menschlichen Krankheiten. Daher erweisen sich die Korrektur verminderter JPH-Proteinspiegel, z.B. bei der Herzinsuffizienz oder JPH-Gendefekten, durch neue Genscheren-Ansätze als vielversprechende therapeutische Ziele für verschiedene Skelett-muskel-, Herzmuskel- und möglicherweise auch neuronale Erkrankungen“, sagt Prof. Lehnart. Forschergruppen weltweit sowie am MBExC und dem SFB 1190 in Göttingen beschäftigen sich intensiv mit der Erforschung der Junctophiline und deren subzellulärer Organisation und Interaktion mit Ionenkanälen. „Nun sind weitere Untersuchungen erforderlich, um festzustellen, ob zwei Jahrzehnte der Grundlagenforschung und klinischen Forschung in neue therapeutische Optionen für Patient*innen übersetzt werden können“, so Lehnart.
Das Göttinger Exzellenzcluster 2067 Multiscale Bioimaging: Von molekularen Maschinen zu Netzwerken erregbarer Zellen (MBExC) wird seit Januar 2019 im Rahmen der Exzellenzstrategie des Bundes und der Länder gefördert. Mit einem einzigartigen interdisziplinären Forschungsansatz untersucht MBExC die krankheitsrelevanten Funktionseinheiten elektrisch aktiver Herz- und Nervenzellen, von der molekularen bis hin zur Organebene. Hierfür vereint MBExC zahlreiche universitäre und außeruniversitäre Partner am Göttingen Campus. Das übergeordnete Ziel ist: den Zusammenhang von Herz- und Hirnerkrankungen zu verstehen, Grundlagen- und klinische Forschung zu verknüpfen und damit neue Therapie- und Diagnostikansätze mit gesellschaftlicher Tragweite zu entwickeln.
Der SFB 1190 Transportmaschinerien und Kontaktstellen zellulärer Kompartimente befasst sich mit der Rolle von Transportmaschinerien und Kontaktstellen in der zellulären Organisation und Physiologie. Die beteiligten Wissenschaftler*innen wollen verstehen, wie die Kombination dieser Systeme die spezifische Verteilung von Molekülen innerhalb der Zelle vermittelt und wie es damit gelingt, zelluläre Kompartimente funktionell zu einem übergeordneten Ganzen zusammen zu schließen.
Universitätsmedizin Göttingen, Georg-August-Universität
Herzforschungszentrum Göttingen
Leiter Arbeitsgruppe Zelluläre Biophysik und Translationale Kardiologie
Prof. Dr. Stephan E. Lehnart
Telefon 0551 / 39-63631
slehnart@med.uni-goettingen.de
Exzellenzcluster Multiscale Bioimaging (MBExC)
Dr. Heike Conrad (Kontakt – Pressemitteilung)
Telefon 0551 / 39-61305
heike.conrad@med.uni-goettingen.de
Originalveröffentlichung: The role of Junctophilin proteins in cellular function. Stephan E. Lehnart & Xander H.T. Wehrens, 2022, Physiol Rev 102: 1211 – 1261. https://doi.org/10.1152/physrev.00024.2021.
http://zum MBExC: https://mbexc.de/
http://zum SFB 1190: https://www.sfb1190.de/index.php?id=833.
http://zum Lehnart Lab: https://herzzentrum.umg.eu/forschung/arbeitsgruppen/zellulaere-biophysik-und-tra...
Logo Exzellenzcluster MBExC
Quelle: MBExC
Autoren der Publikation: (v. l.) Prof. Dr. Stephan E. Lehnart und
Fotos: Colin Derks / privat
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten
Medizin
überregional
Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
Deutsch
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