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30.04.2004 14:50

Soziale Gerechtigkeit hat ökonomisch viel Charme

Claudia Braczko Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Institut Arbeit und Technik

    Eine gute Botschaft zum 1. Mai hat IAT-Präsident Prof. Dr. Franz Lehner: Soziale Gerechtigkeit ist kein Hemmnis, sondern ein Motor für die notwendige Modernisierung von Staat und Wirtschaft

    Soziale Gerechtigkeit, vor allem Verteilungsgerechtigkeit, behindern entgegen der vorherrschenden politischen Sicht in vielen Ländern Europas keineswegs die rasche Entwicklung einer starken wissensbasierten Volkswirtschaft in der Europäischen Union. Sie sind vielmehr wichtige und unabdingbare Voraussetzung für Leistungsfähigkeit und Wachstumsdynamik in der globalisierten Wirtschaft. Der "neudefinierten Gerechtigkeitspolitik vieler sozialdemokratischer Modernisierer in Europa", die einseitig nur noch auf "Leistungs- und Chancengerechtigkeit" zielen, erteilt der Präsident des Instituts Arbeit und Technik im Wissenschaftszentrum Nordrhein-Westfalen, Prof. Dr. Franz Lehner, eine Absage. Viele europäische Sozialdemokraten hätten eine historische Chance verpasst, ihre traditionellen Werte mit Modernisierung, Innovation und Wachstum zu verknüpfen und die westeuropäischen Gesellschaften aus überkommenen Verteilungskonflikten heraus zu führen.

    Dass sich der Wohlfahrtstaat langsam in sein Gegenteil verkehre, liege nicht daran, dass die Erwirtschaftung des dafür notwendigen Wohlstands immer schwieriger wird. Es liege vielmehr daran, dass Staat und Wirtschaft zu wenig innovativ und reformfreudig sind, und die Politik statt durchgreifend zu reformieren nur noch die Lasten umverteilt. Die hohe Arbeitslosigkeit müsste eigentlich dazu führen, dass die Arbeitsverwaltung leistungsfähiger und die Arbeitslosenversicherung die Bürgerinnen und Bürger besser schützen müsste. Das Gegenteil ist der Fall: Leistungen werden abgebaut, Kosten steigen dennoch und alles wird viel bürokratischer. Privilegien für die besser Verdienenden und staatliche Leistungen, von denen nur einige kleine, aber gut organisierte Interessengruppen profitieren, bleiben erhalten. Die Politik gerade auch sozialdemokratischer Regierungen in Europa bürdet einen großen Teil der Kosten und Lasten von Strukturwandel und Modernisierung den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, den sozial Schwachen und oft auch den kleinen und mittleren Unternehmen auf, während Kapitalbesitzer, die Wohlhabenden und die großen Unternehmen die Gewinner von Strukturwandel und Modernisierung sind. Genau an diesem Punkt entzündet sich die aktuelle Debatte über soziale Gerechtigkeit in Deutschland und anderswo völlig zu recht.

    Zur Begründung und Rechtfertigung dieser Politik müssen die Globalisierung und die wissensbasierte Volkswirtschaft herhalten. Das ist jedoch falsch. In der wissensbasierten Volkswirtschaft wird die wirtschaftliche Entwicklung nicht nur durch die technologische Entwicklung vorangetrieben, sondern oft von starken Märkten gezogen.

    Diese Einsicht steht im Kontrast zu der immer noch einseitig technologieorientierten Politik der Europäischen Union und der meisten ihrer Mitgliedsländer. Leitmärkte entspringen vor allem dort, wo eine starke Nachfrage und ein innovationsfreundliches Klima existieren. Eine starke Nachfrage setzt Kaufkraft voraus. Das Ziel, die Europäische Union rasch zur stärksten wissensbasierten Volkswirtschaft zu machen, lässt sich nur dann realisieren, wenn es gelingt, in der Europäischen Union die Massenkaufkraft auf einem möglichst hohen Niveau zu sichern. Das ist in vielen Ländern der Europäischen Union längst nicht mehr der Fall. Die verfügbaren Einkommen der privaten Haushalte und ihre Ausgaben sind seit der Mitte der 1990er Jahre rückläufig oder stagnieren bestenfalls. Das schlägt sich längst ganz offensichtlich in einer massiven Zurückhaltung der Konsumenten nieder. Die Verteilungspolitik hat also in vielen Ländern der Europäischen Union die Massenkaufkraft deutlich geschwächt - und baut damit massive Hemmnisse für die Entwicklung der wissensbasierten Volkswirtschaft auf.

    Die einseitige Verteilung der Lasten von Strukturwandel und Modernisierung ist offensichtlich ungeeignet, die Bereitschaft der Bürgerinnen und Bürger zu fördern, an den notwendigen Reformen mitzuwirken und die Modernisierung mit zu tragen. Reformen und Modernisierungsprozesse finden nur dann die notwendige gesellschaftliche Unterstützung, wenn ihre Gewinne und Verluste in der Sicht der Bürgerinnen und Bürger gerecht verteilt sind. Wenn das, wie in Deutschland, längst nicht mehr der Fall ist, dann kommen die notwendigen Reformen und Modernisierungsprozesse nicht mehr voran - und die Wirtschaft deshalb auch nicht wieder in einen flotten Gang.

    Leistung und die Bereitschaft, lebenslang zu lernen, muss sich gerade in der wissensbasierten Volkswirtschaft für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer lohnen - und nicht bloß für wenige sogenannte Leistungsträger. Sie muss insbesondere auch im sozialen Vergleich der unteren und der durchschnittlichen Einkommen mit den oberen Einkommen und den Spitzeneinkommen und in Bezug auf die soziale Sicherheit als lohnend wahrgenommen werden. Andernfalls kommt es zu Schieflagen und zu massiven Verzerrungen beim Arbeitsangebot. Wenn im sozialen Vergleich untere und mittlere Einkommen als ungerecht wahrgenommen werden, verlieren die entsprechenden Tätigkeiten ihre Attraktivität. Auf längere Sicht schlägt sich das nieder in einem Unterangebot an Facharbeit und anderen für die wissensbasierte Volkswirtschaft wichtigen, aber vergleichsweise "unterbezahlten" Tätigkeiten und in einem Überangebot an eng definierter Wissensarbeit. Beides hemmt die Entwicklung der wissensbasierten Volkswirtschaft ganz entscheidend.

    Die moderne wissensbasierte Volkswirtschaft ist mit ihren hohen Anforderungen an die Fähigkeit von Unternehmen und ganzen Volkswirtschaften und die damit verbundenen Anforderungen an Wissen und Lernbereitschaft der Menschen noch viel egalitärer als dies die Wirtschaft der Industriegesellschaft war. "Die soziale Gerechtigkeit, insbesondere die Verteilungsgerechtigkeit, hat also für die wissensbasierte Volkswirtschaft noch sehr viel mehr ökonomischen Charme als für die Volkswirtschaft des Industriezeitalters".

    Für weitere Fragen steht
    Ihnen zur Verfügung:
    Prof. Dr. Franz Lehner
    Durchwahl: 0209/1707-112

    Pressereferentin
    Claudia Braczko
    Munscheidstraße 14
    45886 Gelsenkirchen
    Tel.: +49-209/1707-176
    Fax: +49-209/1707-110
    E-Mail: braczko@iatge.de
    WWW: http://iat-info.iatge.de


    Weitere Informationen:

    http://iat-info.iatge.de


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Gesellschaft, Wirtschaft
    überregional
    Wissenschaftspolitik
    Deutsch


     

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