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14.06.2022 09:00

„Tuberkulose ist einer der größten Infektionskiller weltweit“

Theresa Mair Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Medizinische Universität Innsbruck

    Experteninterview mit dem Infektiologen Günter Weiss: Tuberkulose (TBC) schreitet schleichend, mit unspektakulären Symptomen fort – einer der Gründe für Günter Weiss, Direktor der Univ.-Klinik für Innere Medizin II, warum während der Corona-Pandemie weniger TBC diagnostiziert wurde, die Sterbezahlen aber anstiegen. Im Interview erklärt er auch, warum alle PatientInnen vor Beginn einer immunsupprimierenden Therapie auf das Vorliegen einer latenten TBC untersucht werden müssen.

    Innsbruck, am 14 Juni 2022

    Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat das Ziel ausgegeben, Tuberkulose bis zum
    Jahr 2030 zu eliminieren. Wie ist die TBC-Lage in der Welt?

    Günter Weiss: Tuberkulose ist immer noch einer der größten Infektionskiller weltweit. Jedes Jahr erkranken zehn Millionen Menschen. Rund die Hälfte der Erkrankten weltweit haben keinen Zugang zu Therapie. 1,6 bis 1,7 Millionen Menschen sterben jährlich daran. 2020 hat die WHO weniger Neudiagnosen* verzeichnet, aber gleichzeitig mehr Todesfälle* registriert. Die COVID-19 Pandemie hat die Bekämpfung der TBC um Jahre zurückgeworfen. Die Symptome von TBC sind unspezifisch und Kranke sind nicht mehr eingehend untersucht worden und haben deshalb keine Behandlung bekommen. Die Medizin war nur noch auf Corona fokussiert. Die WHO geht davon aus, dass die Zahlen in den kommenden Jahren noch drastischer ausfallen werden.

    Im Jahr 1995 sind in Österreich noch 1.476 Tuberkulose-Fälle (Tirol: 76) erfasst worden, 135 Erkrankte sind verstorben. 2021 waren es bundesweit noch 399 Erkrankte (Tirol: 27) und 20 Tote. Wie ist es hierzulande gelungen, TBC einzudämmen?

    Weiss: Tuberkulose war früher eine Krankheit der „armen Leute“, die in prekären Hygiene- und Wohnverhältnissen lebten und unterernährt waren. Früher nannte man TBC auch Schwindsucht – eine Krankheit, die die Energiereserven des Körpers konsumiert. Bis in die 1960er Jahre gab es keine spezifische Therapie, die Kranken wurden zur Luftkur, z.B. nach Hochzirl, geschickt, man hat sie in die Sonne gesetzt und manchmal wurde ein Pneumothorax erzeugt, damit die Lunge zusammenfällt. Man hat gehofft, dass dadurch die Infektion ausheilt. Dank der verbesserten Hygiene und Lebensverhältnisse und der Verfügbarkeit von Therapien ist TBC in Österreich auf dem Rückzug. Das gilt aber eben nicht für den Rest der Welt.

    Könnte es durch Migration und Flucht wieder gehäuft zu TBC-Fällen kommen?

    Weiss: Einige dieser Personen stammen aus Ländern, in denen Tuberkulose weiterverbreitet ist, und es in der Kindheit oder im Rahmen der Flucht zu Kontakt mit Tuberkulosebakterien kommt. Eine wesentliche Zunahme der Erkrankungen ist allerdings dadurch nicht zu erwarten. Gesunde Menschen per se haben ein extrem niedriges Risiko nach Kontakt mit Erkrankten an Tuberkulose zu erkranken. Im Freien herrscht de facto null Ansteckungsgefahr. Die meisten Infektionen geschehen im gemeinsamen Haushalt. Ein Großteil der in Österreich diagnostizierten Patientinnen und Patienten stammt aus Endemie-Gebieten. Die Übertragung erfolgt durch Aushusten von Tuberkelbakterien durch Patientinnen und Patienten mit offener Lungentuberkulose. Da Tuberkulosebakterien sich sehr langsam vermehren, dauert es nach einer Ansteckung bis zum Ausbruch der Erkrankung oft mindestens ein halbes Jahr. Nur bei ca. ein bis zwei Prozent der Infizierten kommt es zu einer aktiven/offenen Tuberkulose. Ein gutes Immunsystem eliminiert nämlich die Bakterien auf der Stelle. Das ist bei 50 bis 70 Prozent der Menschen, die mit TBC in Kontakt kommen, der Fall.

    Was muss man über offene (aktive) und latente Tuberkulose wissen?

    Weiss: Bei den restlichen 30 bis 50 Prozent der Menschen, die mit Mycobacterium tuberculosis in Kontakt gekommen sind, ist das Immunsystem nicht in der Lage, die Bakterien sofort zu eliminieren. Es kommt zu einer Aktivierung des Immunsystem und Ausbildung eines so genannten Primärkomplexes. Das heißt: Um die Erreger in der Lunge und im begleitenden Lymphknoten häufen sich alle Arten von Immunzellen an, die die Bakterien in Schach halten und deren Vermehrung verhindern, sie aber mitunter nicht abtöten können. Die Betroffenen merken nichts. Diese als latente Tuberkulose bezeichnete Situation betrifft rund ein Viertel der Weltbevölkerung. Die latente TBC kann mit einem immunologischen Test diagnostiziert werden.
    Mit zunehmendem Alter, einem geschwächten Immunsystem oder durch eine immunsuppressive Therapie kann die latente Tuberkulose reaktiviert und zur aktiven Tuberkulose werden. Das trifft im Laufe des Lebens auf circa fünf Prozent der Menschen mit latenter TBC zu. Bei der aktiven und reaktivierten TBC handelt es sich primär um Lungen-TBC. Die Bakterien können bei besonders schlechtem Immunstatus aber auch in andere Organe, wie z.B. die Lymphknoten oder das Gehirn streuen. Wird nicht rechtzeitig und ausreichend behandelt, kommt es zu Lungen- bzw. Organversagen, TBC kann das Zentralnervensystem angreifen, zu TBC-Sepsis führen, und so zum Tod.

    Wie äußert sich ein TBC-Ausbruch und wie wird die Diagnose gestellt?

    Weiss: Die Symptome einer aktiven Tuberkulose sind mit Nachtschweiß, Leistungsminderung, Gewichtsabnahme, chronischem Husten und Fieber anfangs sehr unspezifisch und die Erkrankung schreitet schleichend fort. Die Diagnose erfolgt neben der Anamnese mit Blutuntersuchung sowie radiologischen Verfahren (Röntgen oder Computertomographie). Patientinnen und Patienten, die sich beispielsweise aufgrund einer Autoimmunerkrankung einer spezifischen immunsupprimierenden Therapie unterziehen müssen, werden vorab auf das mögliche Vorhandensein einer latenten Tuberkulose getestet und im positiven Fall prophylaktisch behandelt, um eine Reaktivierung der TBC zu verhindern.

    Wer gehört zur Risikogruppe?

    Weiss: Kleine Kinder haben das größte Risiko für einen schweren Verlauf. Geschwächte, mangelernährte Menschen sind ebenso gefährdet wie Patientinnen und Patienten mit unbehandelter HIV Infektion oder eingeschränkter Immunfunktion aufgrund anderer Erkrankungen oder Therapien. Bei unbehandelten HIV Patienten kommt es deshalb zur TBC Reaktivierung, weil HI-Viren Immunzellen (sog. T-Helfer Zellen) ausschalten, die für die Unterdrückung der Tuberkulosebakterien bei latenter TBC eine zentrale Rolle spielen. Bei uns kommt das selten vor, weil Menschen mit einer gut therapierten HIV-Infektion - und damit extrem niedriger Virenlast - kein erhöhtes Risiko aufweisen.

    Wie verläuft die Therapie?

    Weiss: Mycobacterium tuberculosis vermehrt sich sehr langsam. Daher müssen mehrere Antibiotika gleichzeitig für mindestens sechs Monate eingenommen werden, um Resistenzbildungen zu verhindern. Bei multiresistenter TBC, die in Österreich glücklicherweise noch nicht verbreitet ist, wird noch deutlich länger therapiert, nämlich zwei bis drei Jahre lang. Das Problem ist, dass, erstens, die Therapietreue sinkt, je länger die Medikamente eingenommen werden müssen und, zweitens, die Nebenwirkungen auf Leber, Blutbild und Nerven schwerwiegend sein können. Außerdem stehen wir vor der Herausforderung, dass es gegen multiresistente TBC weniger Therapeutika gibt, die auch oft nicht so effektiv sind. Mit einer adäquaten Therapie sind die Chancen aber sehr gut, dass die Erkrankung vollständig ausheilt und nie mehr wiederkehrt.

    Was tut sich im Bereich der TBC-Forschung?

    Weiss: Die Wissenschaft ist im Bereich der TBC sehr aktiv. Immunmetabolismus ist gerade ein ganz heißes Thema in der Infektiologie. Hier beschäftigt man sich (auch hier in Innsbruck) mit Fragen, wie Bakterien in Immunfresszellen, den Makrophagen, überleben können, bzw. wie man den Stoffwechsel der Makrophagen oder Bakterien so beeinflussen kann, dass Bakterien eliminiert werden. Das besser Verständnis dieser Prozesse zwischen Immunzellen und Erregern führt zur Identifikation von Schwachstellen der Erreger und zur Entwicklung neuer Medikamente.

    *Rückgang der Neudiagnosen von 7,1 Mio im Jahr 2019 auf 5,8 Mio. im Jahr 2020 (Quelle: WHO-Report 2021)

    *Die WHO schätzt die Zunahme der Todesfälle von ~1,2 Mio. im Jahr 2019 auf ~1,3 Mio. im Jahr 2020 in der HIV-negativen Weltbevölkerung und auf ~ 214.000 von ~209.000 bei HIV-positiven Erkrankten. (Quelle: WHO-Report 2021)

    Zur Person:
    Günter Weiss, Direktor der Univ.-Klinik für Innere Medizin II, ist anerkannter Experte auf dem Gebiet der Inneren Medizin, Infektiologie und Immunologie und konnte bereits zahlreiche, international beachtete Beiträge zu immunologischen Prozessen der Infektionsabwehr liefern. Im Februar 2020 behandelte er die ersten beiden Covid-19 PatientInnen Österreichs.

    Pressefoto: https://www.i-med.ac.at/pr/presse/2022/34.html

    Medienkontakt:
    Medizinische Universität Innsbruck
    Public Relations und Medien
    Theresa Mair
    Innrain 52, 6020 Innsbruck, Austria
    Telefon: +43 512 9003 71833
    public-relations@i-med.ac.at, www.i-med.ac.at

    Details zur Medizinischen Universität Innsbruck
    Die Medizinische Universität Innsbruck mit ihren rund 2.100 MitarbeiterInnen und ca. 3.300 Studierenden ist gemeinsam mit der Universität Innsbruck die größte Bildungs- und Forschungseinrichtung in Westösterreich und versteht sich als Landesuniversität für Tirol, Vorarlberg, Südtirol und Liechtenstein. An der Medizinischen Universität Innsbruck werden folgende Studienrichtungen angeboten: Humanmedizin und Zahnmedizin als Grundlage einer akademischen medizinischen Ausbildung und das PhD-Studium (Doktorat) als postgraduale Vertiefung des wissenschaftlichen Arbeitens. An das Studium der Human- oder Zahnmedizin kann außerdem der berufsbegleitende Clinical PhD angeschlossen werden.
    Seit Herbst 2011 bietet die Medizinische Universität Innsbruck exklusiv in Österreich das Bachelorstudium „Molekulare Medizin“ an. Ab dem Wintersemester 2014/15 kann als weiterführende Ausbildung das Masterstudium „Molekulare Medizin“ absolviert werden.

    Die Medizinische Universität Innsbruck ist in zahlreiche internationale Bildungs- und Forschungsprogramme sowie Netzwerke eingebunden. Schwerpunkte der Forschung liegen in den Bereichen Onkologie, Neurowissenschaften, Genetik, Epigenetik und Genomik sowie Infektiologie, Immunologie & Organ- und Gewebeersatz. Die wissenschaftliche Forschung an der Medizinischen Universität Innsbruck ist im hochkompetitiven Bereich der Forschungsförderung sowohl national auch international sehr erfolgreich.


    Wissenschaftliche Ansprechpartner:

    Univ.-Prof. Dr.med.univ. Günter Weiss
    Universitätsklinik für Innere Medizin II
    Tel.: +43 50 504 23251
    E-Mail: Guenter.Weiss@i-med.ac.at


    Bilder

    Günter Weiss ist Direktor der Univ.-Klinik für Innere Medizin II in Innsbruck
    Günter Weiss ist Direktor der Univ.-Klinik für Innere Medizin II in Innsbruck
    F. Lechner
    MUI


    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten, Wissenschaftler, jedermann
    Ernährung / Gesundheit / Pflege, Medizin
    überregional
    Buntes aus der Wissenschaft, Forschungs- / Wissenstransfer
    Deutsch


     

    Günter Weiss ist Direktor der Univ.-Klinik für Innere Medizin II in Innsbruck


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