377/97 2. Dezember 1997
Bei Strahlentherapeuten des Essener Universitätsklinikums liegt die medizinische Gesamtverantwortung für eine europaweit betriebene klinische Studie, in deren Rahmen ein neues Therapieverfahren untersucht werden soll. 40 Patienten, die an einem besonders heimtückischen Hirntumor, dem Glioblastom leiden, unterziehen sich im Rahmen der Studie der sogenannten Neutroneneinfangtherapie. Der dazu notwendige Forschungsreaktor steht im holländischen Petten, die Kranken kommen aus Österreich, der Schweiz, Frankreich, den Niederlanden und Deutschland, und behandelt werden sie von Ärzten des Radiologischen Zentrums am Essener Klinikum.
Rund zehn Jahre dauerten die Vorbereitungen auf den Beginn der Studie, die von der Europäischen Kommission durch das BIOMED II-Programm für Forschung und Technologieentwicklung finanziert wird. Die europäischen Wissenschaftler haben sich dabei, wie der Leitende Oberarzt an der Essener Strahlenklinik, Privatdozent Dr. Wolfgang Sauerwein, gestern (Dienstag, 2. Dezember) in einer Pressekonferenz berichtete, zunächst auf Arbeitsergebnisse aus Amerika und Japan gestützt. Bereits 1938 wurde die Idee publiziert, die Reaktion zwischen langsamen (thermischen) Neutronen und Nukliden, die diese Neutronen absorbieren und dabei ionisierende Strahlen freisetzen, für die Strahlentherapie von Tumoren zu nutzen. Wenn es gelingen würde, eine solche Reaktion ausschließlich im Tumorgewebe zu erzeugen, wäre - bei optimaler Schonung des gesunden Gewebes - die Abtötung der Tumorzelle möglich.
Von Beginn an konzentrierten sich die Überlegungen auf ein spezielles Bor-Isotop (10B), von dem man wußte, daß seine "Neutroneneinfangreaktion" mit hoher Wahrscheinlichkeit auftritt. Die dabei erzeugte ionisierende Strahlung aus einem Helium- und einem Lithiumkern hat im Gewebe nur ein Hundertstel Millimeter Reichweite, was dem Durchmesser einer Säugerzelle entspricht. Auf dieser kurzen Strecke entfaltet die Strahlung aber eine sehr große Zerstörungskraft. Eine einzige Reaktion reicht aus, um eine Tumorzelle zu töten.
Bevor dieses Wissen für die Tumortherapie eingesetzt werden konnte, mußten zwei Voraussetzungen erfüllt sein: Es mußte gelingen, das benötige Bor-Isotop im Tumorgewebe anzureichern, und es mußte eine Strahlungsquelle zur Verfügung stehen, die eine ausreichende Zahl geeigneter Neutronen produziert. Das ist bislang nur in einem Forschungsreaktor möglich, wie ihn sich die an der Europa-Studie beteiligten Wissenschaftler jetzt in Petten zunutze machen können.
Erste Versuche, die amerikanische Wissenschaftler in den fünfziger Jahren mit der Neutroneneinfangtherapie unternahmen, endeten trotz der Schlüssigkeit der Theorie im Desaster. Heute gilt als gesichert, daß die damals zum Einsatz gekommenen Substanzen ungeeignet und die physikalischen Voraussetzungen unzureichend waren. In den achtziger Jahren aber gelang es in Japan, mit der Neutroneneinfangtherapie in Einzelfällen das gegen jede andere Therapieform äußerst resistente Glioblastom zu heilen. Entsprechende Berichte veranlaßten verschiedene europäische Arbeitsgruppen, sich dem Thema ihrerseits mit erhöhter Aufmerksamkeit zuzuwenden und dabei miteinander zu kooperieren.
Nachdem erhebliche, den Beginn einer europaweiten Zusammenarbeit verzögernde, administrative Hindernisse überwunden wurden, wird jetzt zum ersten Mal in Europa ein medizinisches Projekt auf multinationaler Ebene bearbeitet. Beteiligt sind Neurochirurgische Kliniken in Amsterdam, Bremen, München, Graz, Nizza und Lausanne, die bislang für unheilbar geltende Glioblastom-Patienten zur Behandlung nach Petten schicken. Die Tumorkranken halten sich für die Dauer der Therapie am Krankenhaus der Freien Universität VU in Amsterdam auf und werden täglich nach Petten gebracht. Dort übernehmen Strahlentherapeuten unter Leitung von Privatdozent Dr. Sauerwein und Strahlenphysiker unter Leitung von Professor Rossow des Essener Klinikums ihre Behandlung. Die Gemeinsame Forschungsstelle (GFS) der Europäischen Kommission leistet zusammen mit der Stiftung Energieforschung der Niederlande wissenschaftliche und technische Unterstützung beim Betrieb des Reaktors. Das über das europäische BIOMED-Programm geförderte Projekt wird von der Universität Bremen koodiniert.
Redaktion: Monika Rögge, Telefon: (02 01) 1 83-20 85 Weitere Informationen: Dr. Wolfgang Sauerwein, Telefon: (02 01) 7 23-20 52
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Ernährung / Gesundheit / Pflege, Medizin
überregional
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Deutsch
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