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03.08.2022 08:12

Die „elektrische Pille“

Sarah Link PR und Marketing
Technische Universität Wien

    2020 vorausgesagt und 2022 in der Klinik bestätigt: Eugenijus Kaniusas und seine Partner zeigten, dass die Stimulation des aurikulären Vagusnervs eine entzündungshemmende Wirkung bei schweren Covid-19-Verläufen hat.

    Die Vagusnerv-Stimulation der Ohrmuschel (kurz aVNS) wird eingesetzt, um chronische Erkrankungen zu behandeln, die ein gesamtes Organsystem betreffen. Beispiele dafür sind die Schmerztherapie, aber auch die Behandlung von Depressionen oder Durchblutungsstörungen. Bei dieser minimalinvasiven Therapie werden ausschließlich die sensorischen Nervenenden in der Ohrmuschel stimuliert, wodurch auch antientzündliche Prozesse angestoßen werden. Dass diese neue Methode funktioniert und einen therapeutischen Mehrwert hat, konnten Eugenijus Kaniusas und sein Team bereits mehrfach zeigen. Die neuesten Studienergebnisse publizierte das Forschungsteam kürzlich in der Fachzeitschrift „Frontiers in Physiology“.

    Ein System im Ungleichgewicht

    Löst ein Virus – wie beispielsweise SARS-CoV-2 – eine entzündliche Reaktion im Körper aus, wird diese Information über das sensorische Nervensystem an das Gehirn übermittelt. Der Vagusnerv, der sich vom Gehirn bis in die meisten Organe des menschlichen Körpers erstreckt, antwortet regulatorisch mit einem anti-inflammatorischen Reflex. Fällt die entzündungshemmende Reaktion jedoch zu schwach aus, kann die überschießende Entzündung die körpereigene Regeneration negativ beeinflussen. Um die Balance zwischen der initial schützenden Entzündungsreaktion und den regenerativen Prozessen wiederherzustellen, können aVNS-Systeme eingesetzt werden.

    Um ihre Hypothese, dass aVNS auch bei schweren Covid-19 Fällen den Heilungsprozess unterstützt, zu überprüfen, arbeiteten die TUW-Forschenden eng mit dem Klinikum Favoriten, der Medizinischen Universität Wien, dem Health Service Center der Wiener Privatklinik, der Sigmund Freud Privatuniversität Wien und der Immunologischen Tagesklinik Wien zusammen.

    aVNS bei schweren Corona-Verläufen

    So konnte das Forschungsteam in seiner jüngsten Studie zeigen, dass der bereits 2020 – zu Beginn der Pandemie – vorhergesagte positive Effekt, den die Vagusnerv-Stimulation auf den Verlauf von schweren Corona-Erkrankungen hat, tatsächlich besteht. Dazu untersuchte das Team den Einsatz von aVNS an Patient_innen, die akut an Corona erkrankt waren und kurz vor einer künstlichen Beatmung standen.

    Greift das Virus den Körper an, können Entzündungsreaktion und Heilungsprozess aus dem Gleichgewicht geraten. Die inflammatorische Antwort des Körpers richtet dann einen größeren Schaden an, als es der Erreger selbst tut. Dieses Gleichgewicht gilt es wiederherzustellen – beispielsweise durch Einsatz eines aVNS-Systems. „Die Elektrostimulation des aurikulären Vagusnervs konnte die Entzündungsreaktion bei Covid-19-Patient_innen nicht nur aufhalten, sie konnte dieser sogar entgegenwirken,“ verleiht Eugenijus Kaniusas, Professor am Institut für Biomedizinische Elektronik der TU Wien, dem Ergebnis Nachdruck.

    Stimulation exakt zum richtigen Zeitpunkt

    Der therapeutische Erfolg von aVNS steigt zudem durch eine Anpassung des Systems. Denn sendet ein aVNS-System konstant elektrische Impulse, kann dies zu Nebenwirkungen wie Schmerzen führen. Auch ist der Stromverbrauch deutlich höher, als wenn das System auf den oder die Patient_in individuell reagiert und gezielt Reize aussendet. Um dies zu realisieren, haben die Forschenden um den Dissertanten Babak Dabiri einen geschlossenen Regelkreis integriert. Eugenijus Kaniusas erklärt: “So ist es uns möglich, den Vagusnerv genau dann zu stimulieren, wenn das Gehirn zuhört. Dies ist der Fall, wenn das Herz sich gerade zusammenzieht und das Blut in die Gefäße strömt oder die betreffende Person gerade ausatmet.“ So können Über- und Unterstimulation verhindert werden, die häufig durch eine dauerhaft anhaltende aVNS entstehen.

    Während sich einfache Messungen ausschließlich auf die Vergangenheit beziehen, haben Kaniusas und sein Team mit Vorhersagen gearbeitet: „In der Studie konnten wir zeigen, dass eine prädiktive Stimulation funktioniert und zum gewünschten Ergebnis führt. Möglich war dies durch eine Feedbackfunktion des Systems, über die das aVNS-System konstruktiv mit dem parasympathischen System interferieren kann“, sagt der Elektrotechniker Kaniusas. „Das aVNS-System hört den gemessenen Biosignalen zu und entsendet genau zum richtigen Zeitpunkt seinen Reiz, wie eine intelligente elektrische Pille,“ zieht er schließlich einen Vergleich. Dies ist ein wichtiger Schritt in Richtung Personalisierung, durch die sich das Forschungsteam auch bessere therapeutische Erfolge und mehr Akzeptanz seitens der Anwender_innen erwartet.


    Wissenschaftliche Ansprechpartner:

    Prof. Dr. Eugenijus Kaniusas
    Institut für Biomedizinische Elektronik
    Fakultät für Elektrotechnik und Informationstechnik
    Technische Universität Wien
    +43 1 58801 35122
    eugenijus.kaniusas@tuwien.ac.at


    Originalpublikation:

    Seitz, T. et al. (2022) Percutaneous auricular vagus nerve stimulation reduces inflammation in critical Covid-19 patients. Frontiers in Physiology, 1349. https://doi.org/10.3389/fphys.2022.897257

    Dabiri, B. et al. (2022). Auricular vagus nerve stimulator for closed-loop biofeedback-based operation. Analog Integrated Circuits and Signal Processing, 1-10. https://doi.org/10.1007/s10470-022-02037-8

    Kaniusas, E. et al. (2020). Non-invasive auricular vagus nerve stimulation as a potential treatment for Covid19-originated acute respiratory distress syndrome. Frontiers in Physiology, 11, 890. https://doi.org/10.3389/fphys.2020.00890


    Bilder

    Von links: Eugenijus Kaniusas, Babak Dabiri und Andreas Dickinger
    Von links: Eugenijus Kaniusas, Babak Dabiri und Andreas Dickinger

    TU Wien

    Individualisierte aurikuläre Vagusnerv-Stimulation zum richtigen Zeitpunkt und mit richtiger Stärke.
    Individualisierte aurikuläre Vagusnerv-Stimulation zum richtigen Zeitpunkt und mit richtiger Stärke.

    TU Wien


    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten, jedermann
    Elektrotechnik, Ernährung / Gesundheit / Pflege, Medizin
    überregional
    Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
    Deutsch


     

    Von links: Eugenijus Kaniusas, Babak Dabiri und Andreas Dickinger


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