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25.11.2022 20:00

Was Oktopus und Mensch verbindet

Jana Schlütter Kommunikation
Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft

    Kopffüßler sind hochintelligente Tiere mit komplexem Nervensystem. Dessen Evolution ist mit der Entwicklung von auffällig viel neuer microRNA verbunden, zeigt ein Team um Nikolaus Rajewsky vom Max Delbrück Center in „Science Advances“.

    Geht man in der Evolution weit zurück, ist der gemeinsame Vorfahre von Mensch und Oktopus eine recht primitives wurmartiges Tier ohne große Intelligenz und mit simplen Augenflecken. Später lässt sich das Tierreich einteilen in Organismen mit Rückgrat – und ohne. Während sich bei Vertebraten, speziell bei Säugetieren und Primaten, große und komplexe Gehirne mit vielfältigen kognitiven Fähigkeiten entwickelten, blieb dies bei den Invertebraten aus. Mit einer Ausnahme: den Kopffüßlern (Cephalopoden).

    Warum sich einzig bei diesen Weichtieren ein so komplexes Nervensystem entwickeln konnte, fragt sich die Wissenschaft schon lange. Über eine mögliche Ursache berichtet nun ein internationales Team um Forschende des Max Delbrück Centers und des Dartmouth College, USA, im Fachblatt „Science Advances“. Sie haben in neuronalen Geweben von Oktopussen entdeckt, dass das microRNA-Repertoire dieser Kopffüßler erheblich erweitert ist. Vergleichbare Entwicklungen gab es auch bei Wirbeltieren. „Das verbindet uns also mit dem Oktopus!“, sagt Professor Nikolaus Rajewsky, der Direktor des Berliner Instituts für Medizinische Systembiologie des Max Delbrück Centers (MDC-BIMSB), Leiter der Arbeitsgruppe „Systembiologie genregulatorischer Elemente“ und Letztautor der Studie. Zugleich bedeute es, dass microRNAs wahrscheinlich fundamental wichtig für die Entwicklung komplexer Gehirne sind.

    2019 las Rajewsky eine Publikation über Genanalysen beim Oktopus. Man hatte entdeckt, dass er viel RNA-Editing betreibt, also bestimmte Enzyme intensiv nutzt, die den Code der RNA verändern können. „Ich dachte mir: Vielleicht ist er ja nicht nur im Editing gut, sondern auch sonst ein RNA-Künstler?“ Also begann Rajewsky eine Kollaboration mit der Meeresforschungsstation in Neapel, die 18 verschiedene Gewebetypen von toten Oktopussen schickte.

    Das Ergebnis der Genanalysen war unerwartet: Nicht das RNA-Editing war spektakulär. („Es ist zwar häufig, aber wir glauben, dass es nicht in interessanten Bereichen der RNA stattfindet.“) Nein, sondern die Tatsache, dass eine berühmte Gruppe von RNA-Genen, die microRNAs, im Oktopus extrem angewachsen ist – um 42 neue Genfamilien. Sie finden sich spezifisch im neuronalen Gewebe und die meisten davon im Gehirn. Dass diese Gene funktionell wichtig sind, schließt das Team aus dem Nachweis, dass sie während der Cephalopoden-Evolution konserviert wurden. Sie waren also vorteilhaft für die Tiere.

    Rajewsky forscht seit über 20 Jahren an microRNAs. Diese Gene werden nicht etwa in Boten-RNAs übersetzt, die die Anweisungen für die Proteinproduktion in der Zelle weitergeben. Vielmehr kodieren sie für kleine RNA-Stücke, die wiederum an Boten-RNA binden und darüber die Herstellung der Proteine beeinflussen. Auch diese Bindungsstellen waren in der Cephalopoden-Evolution konserviert – ein weiteres Indiz, dass diese neuen microRNAs funktional wichtig sind.

    Familienzuwachs für die microRNA

    „Dies ist die drittgrößte Erweiterung von microRNA-Familien im Tierreich und die größte jenseits der Wirbeltiere“, betont Erstautor Grygoriy Zolotarov, M.D., ein ukrainischer Wissenschaftler, der während seines Medizinstudiums in Prag und danach im Labor von Rajewsky am MDC-BIMSB forschte. „Zum Vergleich: die Auster, ebenfalls ein Weichtier, bekam seit dem letzten gemeinsamen Vorfahren mit den Oktopoden nur fünf neue microRNA-Familien dazu – der Oktopus 90!“ Austern seien ja auch gerade nicht für ihre Intelligenz berühmt.

    Schon vor Jahren faszinierte Rajewsky die Begegnung mit einem Oktopus bei einem abendlichen Rundgang im kalifornischen Monterey Bay Aquarium. „Da sah ich eine Gestalt im Becken sitzen und wir haben uns – meine ich – über mehrere Minuten hinweg gegenseitig angeguckt.“ Es sei ein großer Unterschied, ob man einen Kraken oder einen Fisch anschauen würde. „Auch wenn das wenig wissenschaftlich ist: Man hat das Gefühl von Intelligenz, die durch die Augen spricht.“ Oktopusse haben ähnlich komplexe Kameraaugen wie der Mensch.

    Evolutionär gesehen sind Oktopoden einzigartig im Reich der Wirbellosen. Sie haben ein zentrales Gehirn, aber auch ein peripheres Nervensystem, das teilweise autark handeln kann: Verlieren sie einen Tentakel, bleibt er berührungsempfindlich und kann sich noch schlängeln. Dass sich bei ihnen unabhängig von allen anderen Arten so komplexe Gehirnfunktionen entwickelt haben, könnte daran liegen, dass sie ihre Arme gezielt einsetzen. Etwa als Werkzeug, um Muschelschalen zu öffnen. Oktopusse sind – auch ein Zeichen von Intelligenz – sehr neugierig, haben ein Gedächtnis, erkennen Menschen wieder und haben diesbezüglich ihre Vorlieben. Inzwischen glaubt man, dass sie sogar träumen. Sie verändern im Schlaf ihre Farbmuster und Hautstrukturen.

    So fremd wie ein Alien

    „Man sagt, wenn man einem Alien begegnen will, soll man tauchen gehen und sich mit einem Oktopus anfreunden“, sagt Nikolaus Rajewsky. Er will nun mit anderen Oktopus-Forscher*Innen ein europäisches Netzwerk organisieren, um sich mit den (bisher wenigen) besser austauschen zu können. Das Interesse an diesen Tieren nehme weltweit zu. Auch in der Verhaltensforschung. Schließlich sei es spannend, eine Intelligenz zu analysieren, die sich ganz unabhängig von unserer eigenen entwickelt hat. Doch einfach wäre das nicht „Wenn man mit ihnen Tests macht, die über Belohnungen funktionieren – also kleine Snacks – haben sie bald keine Lust mehr. Zumindest berichten mir das Kollegen“, sagt Rajewsky.

    „Da Kraken keine typischen Modellorganismen sind, waren unsere molekularbiologische Werkzeugen sehr eingeschränkt“, erklärt Zolotarov. „Daher wissen wir noch nicht, in welchen Zelltypen genau die neuen microRNAs exprimiert werden.“ Als nächstes will Rajewskys Team nun eine Technik, die in seinem Labor entwickelt wurde, beim Oktopus anwenden. Nämlich Zellen im Gewebe molekular aufgelöst sichtbar machen.

    Max Delbrück Center

    Das Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft (Max Delbrück Center) gehört zu den international führenden biomedizinischen Forschungszentren. Nobelpreisträger Max Delbrück, geboren in Berlin, war ein Begründer der Molekularbiologie. An den Standorten in Berlin-Buch und Mitte analysieren Forscher*innen aus rund 70 Ländern das System Mensch – die Grundlagen des Lebens von seinen kleinsten Bausteinen bis zu organ-übergreifenden Mechanismen. Wenn man versteht, was das dynamische Gleichgewicht in der Zelle, einem Organ oder im ganzen Körper steuert oder stört, kann man Krankheiten vorbeugen, sie früh diagnostizieren und mit passgenauen Therapien stoppen. Die Erkenntnisse der Grundlagenforschung sollen rasch Patient*innen zugutekommen. Das Max Delbrück Center fördert daher Ausgründungen und kooperiert in Netzwerken. Besonders eng sind die Partnerschaften mit der Charité – Universitätsmedizin Berlin im gemeinsamen Experimental and Clinical Research Center (ECRC) und dem Berlin Institute of Health (BIH) in der Charité sowie dem Deutschen Zentrum für Herz-Kreislauf-Forschung (DZHK). Am Max Delbrück Center arbeiten 1800 Menschen. Finanziert wird das 1992 gegründete Max Delbrück Center zu 90 Prozent vom Bund und zu 10 Prozent vom Land Berlin. www.mdc-berlin.de


    Wissenschaftliche Ansprechpartner:

    Prof. Nikolaus Rajewsky
    Direktor, Berliner Institut für Medizinische Systembiologie des Max Delbrück Centers (MDC-BIMSB)
    +49 30 9406-1585 (Büro Rajewsky)
    rajewesky@mdc-berlin.de or veronika.jakobi@mdc-berlin.de (Büro Rajewsky)


    Originalpublikation:

    Grygoriy Zolotarov et al. (2022): „MicroRNAs are deeply linked to the emergence of the complex octopus brain“, Science Advances. DOI: 10.1126/sciadv.add9938


    Weitere Informationen:

    https://www.science.org/doi/10.1126/sciadv.add9938 - Studie
    https://www.mdc-berlin.de/de/n-rajewsky - AG N. Rajewsky


    Bilder

    Oktopusse – hier ein Jungtier – haben komplexe Kamera-Augen.
    Oktopusse – hier ein Jungtier – haben komplexe Kamera-Augen.
    Nir Friedman
    Nir Friedman

    Oktopusse haben sowohl ein zentrales Gehirn, aber auch ein peripheres Nervensystem, das teilweise autark handeln kann.
    Oktopusse haben sowohl ein zentrales Gehirn, aber auch ein peripheres Nervensystem, das teilweise au ...
    Nir Friedman
    Nir Friedman


    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten, jedermann
    Biologie
    überregional
    Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
    Deutsch


     

    Oktopusse – hier ein Jungtier – haben komplexe Kamera-Augen.


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