Nach mehreren Jahren Betrieb hat die STEREO-Kollaboration die finalen Ergebnisse ihrer Antineutrino-Studien veröffentlicht. Die Forscherinnen und Forscher konnten anhand der vorliegenden Daten die Existenz von sterilen Neutrinos, einem zusätzlichen Neutrino-Zustand, der in vielen Theorien erwartet wird, ausschließen. Das Ergebnis, das in der Ausgabe von Nature vom 11. Januar erscheinen wird, hat wichtige Auswirkungen auf viele fundamentale Bereiche der Physik.
In der modernen Teilchenphysik werden alle bekannten Elementarteilchen und ihre Wechselwirkungen im sogenannten Standardmodell der Teilchenphysik beschrieben. Das Modell umfasst auch Neutrinos, Teilchen, die 1930 von Wolfgang Pauli postuliert wurden, um die universellen Energieerhaltungssätze zu erfüllen. Neutrinos sind sehr leicht, elektrisch neutral und wechselwirken nur über die elektroschwache Kraft. Daher sind sie extrem schwer nachzuweisen, ein direkter experimenteller Nachweis gelang erst 1956.
Heute sind drei verschiedene Arten von Neutrinos bekannt. Diese Neutrinos können aufgrund ihrer sehr kleinen, aber von Null verschiedenen Masse ihre Identität zwischen diesen verschiedenen Zuständen wechseln. Diese sogenannten Neutrino-Oszillationen wurden vor etwa zwei Jahrzehnten nachgewiesen. Im Jahr 2011 wurde mit erhöhter Präzision eine Anomalie zwischen dem beobachteten und dem vorhergesagten Antineutrinofluss festgestellt, der in Kernreaktoren entsteht. Daraufhin wurde die Hypothese aufgestellt, dass es einen zusätzlichen Neutrino-Zustand gibt, der steril ist, d. h. nicht über die schwache Wechselwirkung wechselwirkt. Dieses Teilchen könnte dann möglicherweise auch weitere physikalische Phänomene erklären, die bisher nicht vollständig verstanden sind, wie etwa dunkle Materie.
Um die Hypothese der sterilen Neutrinos eindeutig zu testen und ihre Eigenschaften zu erforschen, wurde das STEREO-Experiment konzipiert und 2017 am Kernforschungsreaktor des ILL Grenoble in Betrieb genommen. Ein aus sechs identischen Elementen bestehender Detektor wurde nur 10 Meter vom Reaktorkern entfernt aufgestellt. Das Projekt profitierte dabei von den Erfahrungen, die in mehreren Generationen von Reaktorneutrinoexperimenten gesammelt wurden. Abgeschirmt von der äußeren Umgebung waren die Zellen des Detektors ideal positioniert, um mit beispielloser Präzision nach der Signatur steriler Neutrinos zu suchen: Es sollten dafür in kurzer Entfernung vom Reaktor positionsabhängige Verzerrungen in ihrer Energieverteilung auftreten.
Nun hat die STEREO-Kollaboration, bestehend aus Forscherinnen und Forschern des Max-Planck-Instituts für Kernphysik (MPIK) in Heidelberg, Deutschland, und den französischen Instituten CEA Saclay, CNRS, den Universitäten Grenoble Alpes und Savoie Mont Blanc sowie dem Institut Laue-Langevin (ILL) ihre neuesten Ergebnisse veröffentlicht, die den gesamten Datensatz kombinieren:
Die Physikerinnen und Physiker bestätigten eine messbare Anomalie im Neutrinofluss, der von Kernreaktoren emittiert wird, schließen jedoch sterile Neutrinos als Ursache dafür aus.
„Wir konnten in den Jahren 2017 bis 2020 insgesamt mehr als 100 000 Neutrinos beobachten, aber keine Spur von möglichen sterilen Neutrinos in diesen Messungen feststellen“, erklärt Christian Buck, einer der leitenden Forscher des Experiments vom MPIK. „Höchstwahrscheinlich resultieren die beobachteten Anomalien aus unterschätzten Unsicherheiten in den Kerndaten aus den radioaktiven Zerfällen, die für die Flussvorhersage verwendet wurden, und nicht aus den Neutrinoexperimenten selbst.“ Während dieses Ergebnis die Hypothese der sterilen Neutrinos deutlich zurückweist, dient es als weitere Unterstützung für die Theorie des Standardmodells und die dort beschriebenen Neutrinos.
Neben der Suche nach sterilen Neutrinos liefert das STEREO-Experiment auch die bisher genaueste Messung des Antineutrinospektrums aus der Spaltung von Uran-235. Es soll als Referenzspektrum für künftige Hochpräzisionsreaktorexperimente dienen, etwa für die Bestimmung der Massenhierarchie von Neutrinos oder die Überprüfung des Standardmodells bei niedrigen Energien. Darüber hinaus könnten Präzisionsmessungen dieser Art dazu beitragen, die Phänomene, die beispielsweise während einer Reaktorabschaltung auftreten, besser zu verstehen.
Die Forscher am MPIK haben sowohl beim Bau des STEREO-Detektors als auch bei der Auswertung der Daten wichtige Beiträge geleistet. So wurden beispielsweise die speziellen Flüssigkeiten im Detektor am MPIK entwickelt, hergestellt und charakterisiert. Insbesondere der mit Gadolinium beladene Flüssigszintillator, der das Herzstück des Detektors bildet, stammt vom MPIK. Ein weiterer wesentlicher Beitrag sind die sehr speziellen Füllsysteme und die Lichtsensoren zur Messung der Lichtsignale nach der Neutrinoreaktion im Detektor. Im Bereich der Analyse war die MPIK-Gruppe in den Bereichen Energierekonstruktion, Effizienzbestimmung und Analysekoordination tätig.
Prof. Dr. Dr. h. c. Manfred Lindner
E-Mail: lindner@mpi-hd.mpg.de
Tel.: (+49)6221 516800
Dr. Christian Buck
E-Mail: christian.buck@mpi-hd.mpg.de
Tel.: (+49)6221 516829
STEREO neutrino spectrum of ²³⁵U fission rejects sterile neutrino hypothesis
D. Lhuillier, A. Blanchet, A. Chalil, I. El Atmani, A. Letourneau, T. Materna, R. Rogly, V. Savu, H. Almazan, C. Buck, A. Bonhomme, M. Lindner, C. Roca, S. Schoppmann, L. Bernard, J. Lamblin, M. Licciardi, J.-S. Réal, J.-S. Ricol, T. Salagnac, A. Stutz, P. del Amo Sanchez, H. Pessard, L.-R. Labit, T. Soldner, M. Vialat
Nature, 11. Januar 2023, DOI: 10.1038/s41586-022-05568-2
https://www.mpi-hd.mpg.de/mpi/en/public-relations/news/news-item/erste-stereo-er... Erste STEREO-Ergebnisse bringen ein viertes Neutrino in Bedrängnis (21.03.2018)
https://www.mpi-hd.mpg.de/mpi/en/public-relations/news/news-item/existenz-eines-... Existenz eines vierten Neutrinos immer unwahrscheinlicher (21.03.2019)
Anordnung des STEREO-Detektors nahe dem Reaktorkern in Grenoble.
MPIK
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, Lehrer/Schüler, Studierende, Wissenschaftler
Physik / Astronomie
überregional
Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
Deutsch
Sie können Suchbegriffe mit und, oder und / oder nicht verknüpfen, z. B. Philo nicht logie.
Verknüpfungen können Sie mit Klammern voneinander trennen, z. B. (Philo nicht logie) oder (Psycho und logie).
Zusammenhängende Worte werden als Wortgruppe gesucht, wenn Sie sie in Anführungsstriche setzen, z. B. „Bundesrepublik Deutschland“.
Die Erweiterte Suche können Sie auch nutzen, ohne Suchbegriffe einzugeben. Sie orientiert sich dann an den Kriterien, die Sie ausgewählt haben (z. B. nach dem Land oder dem Sachgebiet).
Haben Sie in einer Kategorie kein Kriterium ausgewählt, wird die gesamte Kategorie durchsucht (z.B. alle Sachgebiete oder alle Länder).