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01.06.2004 08:52

Kulturelle Identität und das Überleben im KZ

Sabine Gerbaulet Science Communication Centre - Abteilung Kommunikation
Technische Universität Darmstadt

    Die Frage nach Bedeutung und Nutzen von Bildung ist im Zuge der aktuellen Diskussion zunehmend in den Mittelpunkt des Interesses von Politik, Wirtschaft und Öffentlichkeit gerückt. Häufig wird dabei übersehen, dass Bildung bei der Entwicklung einer zivilen und zivilisierten Gesellschaft eine entscheidende Rolle spielt. Diese Frage gehörte zu den ersten bildungssoziologischen Themen, die in der Bundesrepublik aufgegriffen wurde.
    Auch am Institut für Soziologie der Technischen Universität Darmstadt beschäftigt man sich mit dieser Bedeutung von Bildung jenseits vom Pfad des ökonomischen Nutzens: Die Forschungsgruppe "Bildung, Organisation und inkorporiertes Wissen" unter der Leitung von Prof. Dr. Beate Krais versucht diesen Zusammenhang analytisch zu fassen. Ein in diesem Kontext angesiedeltes Forschungsprojekt der Soziologin Maja Suderland untersucht anhand meist autobiographischer Texte von ehemaligen KZ-Häftlingen die Bedeutung von Bildung und kultureller Identität für den Überlebenswillen während der Konzentrationslager-Haft. Sowohl die äußerst straffe Lagerorganisation und die alltägliche Gewalt gegenüber den KZ-Insassen als auch die physische und psychische Verfassung der Häftlinge setzten ihren Möglichkeiten sehr enge Grenzen. Andererseits kann durchaus von einer "sozialen libido" (Pierre Bourdieu) gesprochen werden, die mit eigener Energie die Inhaftierten zu immer neuen Versuchen antrieb, der Entmenschlichung und Gleichmacherei durch die SS etwas entgegenzusetzen. In diesem Zusammenhang nun kommt der persönlichen Bildung ein besonderer Stellenwert zu.
    Ausgehend von der Annahme, dass kulturelle Bildung ein in Kindheit und Jugend geprägter Fundus jedes Einzelnen ist, stellt Maja Suderland die Hypothese auf, dass dieser individuelle Fundus eine Bedeutung für das persönliche Durchhalten im Konzentrationslager besaß. Anhand von Primo Levis Auseinandersetzung mit Jean Améry und dessen These von der "Abdankung des Geistes" in Auschwitz sowie anhand von authentischen Berichten ehemaliger KZ-Häftlinge zeigt sie, welch große Bedeutung kultureller Identität im täglichen Überlebenskampf zukam. Während Jean Améry seine intellektuellen Fähigkeiten als völlig nutzlos im Konzentrationslager darstellte, widersprach Primo Levi dem vehement und betonte Bildung als Möglichkeit zur Wahrung der Menschenwürde.
    Nach genauer Analyse der betreffenden Essays und der biographischen Hintergründe der beiden Autoren erscheint diese Kontroverse jedoch in einem neuen Licht: Bei beiden Autoren kann eine deutliche und langfristige Kontinuität ihrer jeweiligen Haltung zum Nutzen des Geistes bereits in ihrer Jugendzeit und vor ihrer Konzentrationslager-Haft festgestellt werden, so dass die von Améry und Levi jeweils vorgebrachten Argumente nicht in den Bedingungen in Auschwitz, sondern in denen ihrer jeweiligen Herkunft, ihres Werdegangs und in ihrem langfristigen Verhältnis zu Bildung und Kultur begründet sind.
    Maja Suderland zeigt, dass der Rückgriff auf Bildung und Wissen unter den Bedingungen des Konzentrationslagers, körperlicher Qual und ständiger Todesnähe häufig eine letzte Möglichkeit der Selbstvergewisserung eröffnete. Der "Blick nach innen" garantierte in einer Situation totaler Ungewissheit eine Spur von Kontinuität und konnte damit einen Rest des früheren Lebens zurückholen; vielfach war die persönliche Bildung und die Erinnerung daran auch ein letztes Mittel, den "Geruch des Todes" (Zygmunt Bauman) zu unterdrücken.

    Die Ergebnisse dieser Untersuchung sind soeben als Buch bei Campus erschienen:

    Maja Suderland (2004): Territorien des Selbst. Kulturelle Identität als Ressource für das tägliche Überleben im Konzentrationslager. Frankfurt am Main; New York: Campus.
    ISBN 3-593-37503-6; 164 Seiten; EUR 22,90.


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Geschichte / Archäologie, Gesellschaft, Politik, Recht, Sprache / Literatur
    überregional
    Forschungsergebnisse
    Deutsch


     

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