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01.03.2023 13:22

Schluss mit Krisenerzählungen: Wissenschaftler*innen fordern mehr Fairness in der europäischen Migrationsdebatte

Marylen Reschop Pressestelle
Bergische Universität Wuppertal

    Im EU-Projekt OPPORTUNITIES gehen Forschende des Zentrums für Erzählforschung an der Bergischen Universität Wuppertal der Frage nach, wie wir in Europa über Migration sprechen, und stellen dabei fest: Das muss sich ändern. Im Interview erklärt Projektleiter Prof. Dr. Roy Sommer: „Für eine nachhaltige Außenpolitik benötigen wir eine nachhaltige Migrations- und Mobilitätsdebatte!“

    Prof. Sommer, Sie und Ihr Team waren Mitte Februar im Senegal und haben einiges darüber gelernt, welche Sichtweisen es dort auf das Thema Migration gibt. Was waren die Haupterkenntnisse, die Sie mit zurück nach Deutschland gebracht haben?

    Prof. Sommer: Ja, wir haben aus den Gesprächen mit unseren afrikanischen Projektpartnern vor Ort sehr viel mitnehmen können. Als eine Haupterkenntnis lässt sich sicher festhalten, dass das Thema Migration im Senegal nicht im Kontext von Krise betrachtet wird – so wie es hier bei uns der Fall ist. Ausgangspunkt unseres Projekts ist ja die Beobachtung, dass 2015 mit Aufkommen des Begriffs „Flüchtlingskrise“ und weiterer Krisenmetaphorik in der Flüchtlingspolitik eine EU-feindliche Stimmung gefördert wurde. Mit OPPORTUNITIES wollen wir eine zukunftsorientierte und produktive Debatte anregen, die auf neuen Prinzipien für einen fairen Dialog über Einwanderung und erfolgreiche Integration beruht. Dies zunächst zur Einordnung. In Afrika sind wir nun mit Menschen ins Gespräch gekommen, die von diesen Krisenerzählungen direkt betroffen sind.

    Innerafrikanisch gilt Senegal selbst als ein attraktives Zielland für Menschen aus anderen Ländern des Kontinents. Hier wird Migration vielmehr als Chance betrachtet und im Sinne von Mobilität, auch um Erfahrungen zu sammeln, sich beruflich weiterzuentwickeln, etc. Migration wird dabei nicht als Problem besprochen. Das alles kennen wir durchaus ja auch bei uns: Wir machen ein Auslandssemester, arbeiten für einige Zeit im Ausland – dieses Recht ist für uns ganz selbstverständlich. Das Problem bzw. vielmehr auch ein Unverständnis, das wir von unseren afrikanischen Partnern nun gespiegelt bekommen haben, ist, dass wir in Europa dabei mit zweierlei Maß messen. Denn aktuell können z.B. Senegales*innen nur sehr erschwert in die EU einreisen, die Visa-Verfahren sind teuer und aufwändig, junge senegalesische Männer, die beispielsweise in Frankreich studieren wollen, bekommen dazu häufig gar nicht die Möglichkeit, werden abgelehnt und bleiben auf den Kosten sitzen.

    Denn hier in Europa, und das ist eben ein Ergebnis aus der Debatte, die seit 2015 geführt wird, herrscht die skeptische und negative Denkweise vor, dass Menschen aus Afrika herkommen und nicht wieder zurückkehren, und auch der Vorwurf der Kriminalität schwingt häufig mit. In Summe ist das kein fairer Ausgangspunkt für Gespräche über Migration und Integration.

    Hieran wird deutlich: Zuhören ist ein ganz wichtiger Teil des Projekts, was ziehen Sie daraus für die wissenschaftliche Arbeit?

    Zunächst einmal sind die unterschiedlichen Sichtweisen auf das Thema natürlich sehr interessant. Auf einer anderen, zum Beispiel der politischen Ebene, zeigt es uns aber auch, wie wichtig Spielregeln für eine faire Migrationsdebatte – wie wir sie ja entwickeln wollen – sind. Europa inszeniert sich aktuell eher als Festung und schottet sich ab, gegen die „Wellen“ der Migration. Dabei beobachten wir, dass andere Staaten Afrika zunehmend als attraktiven Partner und Zukunftsmarkt betrachten – Russland, China, die Vereinigten Arabischen Emirate. Das sind nun keine neuen Erkenntnisse unseres Projekts und auch europäischen Politiker*innen ist das bewusst; unsere Aufgabe und unser Wille ist es vielmehr, Inspiration für einen Dialog auf Augenhöhe zu geben, und afrikanische Staaten nicht nur als Bittsteller zu betrachten. Da herrscht noch ein viel zu großes Machtgefälle, nicht nur in der Art, wie wir handeln, sondern auch in der Art, wie wir Gespräche und Verhandlungen führen. Auch für eine nachhaltige Außenpolitik benötigen wir eine nachhaltige Migrations- und Mobilitätsdebatte.

    Ihr Besuch im Senegal markiert ungefähr die Halbzeit Ihres Projekts. Wie geht es weiter?

    Unser Part als Wissenschaftler*innen bestand in der ersten Hälfte daraus, die aktuelle Debatte zu analysieren und neue Konzepte zu entwickeln, die eine andere und faire Debatte über Migration in Europa ermöglichen. Parallel haben unsere Projektpartner*innen von den Nichtregierungsorganisationen erlebte Geschichten von Betroffenen gesammelt. Beides bringen wir nun in einem nächsten Schritt in einem wissenschaftlichen Sammelband zusammen, zudem ist ein populärwissenschaftliches Buch geplant, das ein breiteres Publikum anspricht und unsere Themen in die Gesellschaft trägt. Letztlich geht es uns darum, Bewusstsein dafür zu schaffen, dass Migration nicht für Gefahr steht, sondern als Chance betrachtet werden sollte. Das Thema ist hochkomplex und umso wichtiger ist es, wie ich nur allein an den außenpolitischen Aspekten gerade kurz skizziert habe, dass wir aus europäischer Sicht anfangen, die Perspektiven, die andere auf uns haben, ernst zu nehmen und vor allem regelmäßig über Migration und Mobilität zu sprechen – nicht nur in sogenannten Krisenzeiten. Sonst werden wir es zukünftig schwer haben, die globalen Herausforderungen gemeinsam anzugehen.

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    Hintergrund:

    Mit dem Forschungsvorhaben „OPPORTUNITIES“ ist es der Fakultät für Geistes- und Kulturwissenschaften erstmals gelungen, ein EU-Projekt im Rahmen des HORIZON 2020 Programms einzuwerben. Wissenschaftlicher Koordinator des Gesamtprojekts ist Erzählforscher Prof. Dr. Roy Sommer, der im Projekt „Crises as OPPORTUNITIES: Towards a Level Telling Field on Migration and a New Narrative of Successful Integration“ gemeinsam mit 14 Kooperationspartnern neue Spielregeln für die europäische Migrationsdebatte entwickeln und erproben will. Ziele des Projekts sind eine kritische Auseinandersetzung mit europäischen Migrationsdiskursen seit der „Flüchtlingskrise“ von 2015 und eine faire Migrationsdebatte. Die Gesamtfördersumme während der nächsten vier Jahre beträgt über 3.276.000 Euro, die Bergische Universität erhält davon 487.000 Euro.

    Das Verbundprojekt vereint Forscher*innen, NGOs und Künstler*innen aus Belgien, Deutschland, Frankreich, Ghana, Italien, Mauretanien, den Niederlanden, Österreich, Portugal, Rumänien, und dem Senegal.


    Wissenschaftliche Ansprechpartner:

    Prof. Dr. Roy Sommer
    Zentrum für Erzählforschung
    Telefon 0202/439-2365
    E-Mail rsommer@uni-wuppertal.de


    Weitere Informationen:

    https://www.presse.uni-wuppertal.de/fileadmin/presse/Publikationen/Output_27_web... - Beitrag im Forschungsmagazin OUTPUT (ab Seite 31)
    https://www.presse.uni-wuppertal.de/de/medieninformationen/horizon-2020-forscher... - Medieninfo zum Projektstart


    Bilder

    Prof. Dr. Roy Sommer
    Prof. Dr. Roy Sommer
    privat


    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten
    Gesellschaft, Kulturwissenschaften, Pädagogik / Bildung, Politik
    überregional
    Forschungsprojekte, Kooperationen
    Deutsch


     

    Prof. Dr. Roy Sommer


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