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03.06.2004 15:59

Sabbaticals: Bremer Studie über "Ausstieg auf Zeit"

Kai Uwe Bohn Hochschulkommunikation und -marketing
Universität Bremen

    Bremer Forschungsarbeit untersucht Erfahrungen mit neuen betrieblichen Freistellungsmodelln

    Stress, Überforderung, Zeitnot - kaum ein anderes Problem scheint heute so viele Menschen zu plagen wie die immer knapper werdende Zeit. Die gesellschaftliche Modernisierung treibt einen tiefgreifenden Zeitenwandel voran. Nicht nur die Arbeitsbedingungen, sondern die Lebensverhältnisse insgesamt sind betroffen. Die Koordination des Alltagslebens, aber auch die Integration verschiedener Aktivitäten im Lebensverlauf werden immer schwieriger, so dass viele Menschen nach neuen Arrangements zwischen Beruf und freier Zeit suchen. Insbesondere berufliche Anforderungen erweisen sich häufig als Überforderungen und verhindern eine zufrieden stellende Balance der verschiedenen Lebensbereiche. Immer mehr Menschen stellen aber auch neue Ansprüche an individuelle Zeitsouveränität und wünschen ein höheres Maß an Zeitwohlstand. Sabbaticals als ein zeitlich befristeter Ausstieg aus der Erwerbsarbeit versprechen besondere Chancen, aus engen Zeitkorsetts auszubrechen und den Traum vom Zeitwohlstand wahr zu machen.

    In ihrer kürzlich an der Universität Bremen fertig gestellten Dissertation beschäftigt sich die Sozialwissenschaftlerin Barbara Siemers mit dieser in Deutschland noch jungen und kaum erforschten Form der Arbeitszeitgestaltung. Reizvoll und innovativ sind Sabbaticals vor allem deswegen, weil diese "Ausstiege auf Zeit" sich im Unterschied zu anderen Flexibilisierungsformen von Arbeit durch ein hohes Maß an Freiwilligkeit und Eigenverantwortung auszeichnen: Sabbaticals sind frei wählbar (Optionalität), besitzen durch ihre von mehreren Monaten bis hin zu Jahren reichende Dauer ungewöhnliche Nutzungschancen (Potentialität) und sind in der Zeitverwendung nicht an festgelegte Zwecke gebunden (Gestaltungsfreiheit).

    Diese freiheitlichen Perspektiven haben in den vergangenen Jahren dazu geführt, dass Sabbaticals auch in deutschen Medien auf große Aufmerksamkeit stießen. Dabei wurden häufig jedoch zufällige Erfahrungen einzelner Sabbaticalnutzer willkürlich herausgegriffen, idealisiert und oft geradezu mystifiziert. Im Gegensatz hierzu zielt die von Barbara Siemers an der Universität Bremen durchgeführte und von Professor Helmut Spitzley (Institut Arbeit und Wirtschaft, IAW) und Professorin Karin Gottschall (Zentrum für Sozialpolitik, ZES) betreute Untersuchung auf eine empirisch fundierte Erfassung von Sabbaticals, um einen differenzierteren Blick auf deren Realität und die mit der Freistellungsoption verbundenen Risiken und Chancen zu ermöglichen.

    In acht unterschiedlichen Bereichen der Privatwirtschaft und des öffentlichen Dienstes führte die Autorin zunächst Expertengespräche mit Personalleitungen und Interessenvertretungen. Auf dieser Grundlage konnte sie betriebliche Freistellungsregelungen zusammenfassend darstellen und deren Bedingungen und Handlungsoptionen vergleichend analysieren. Das Herzstück ihrer Forschungsarbeit bildet aber die Untersuchung der individuellen Motive und realen Verwendungsweisen von Sabbaticals. Wie nutzen Menschen ihr Sabbatical, welche Erfahrungen machen sie während der Zeit ihrer Freistellung, wie bewerten sie anschließend diese besondere Phase ihres Lebens? Beeinflusst die Erfahrung des Sabbaticals auch nachhaltig die Bewertung und Verwendung von Zeit?

    Die Daten über mehr als 100 Sabbaticalanwenderinnen und Anwendern dienten der Bremer Wissenschaftlerin als Basis. Mit rund 30 von ihnen führte sie mehrstündige Interviews. Es zeigt sich, dass die durch Sabbaticals gewonnene freie Zeit nur ausnahmsweise für besonders spektakuläre Vorhaben genutzt wird. Häufiger anzutreffen sind eher bescheidene und alltagsnahe Verwendungszwecke: Regeneration und Muße, Familienaufgaben, berufliche Weiterbildung, persönliche Neuorientierung in biographischen Entscheidungssituationen oder auch die Realisierung persönlicher Vorlieben in ganz eigenen Projekten.

    Wie Barbara Siemers zeigt, ist die Inanspruchnahme von Sabbaticals trotz hoher Freiheitsgrade für die einzelnen Personen oft sehr "voraussetzungsvoll". Nicht selten müssen sie ihren Sabbaticalwunsch im Unternehmen gegen Widerstände von Vorgesetzten und Kollegen durchsetzen, haben sie erhebliche finanzielle Einbußen hinzunehmen und auch im privaten Umfeld müssen häufig Vorurteile überwunden oder Koordinationsprobleme gemeistert werden. Sehr deutlich wird auch, dass Sabbaticals oft nicht "frei gewählt" werden, sondern eine Antwort auf eine ansonsten nicht lösbare Notsituation darstellt zum Beispiel im Bereich der Familie, der Gesundheit oder des beruflichen Weiterkommens. Sabbaticals sind nicht - wie im "Mythos" nahegelegt - allein von Freiheit und Selbstbestimmung, sondern können auch von strukturellen Notlagen bestimmt und geprägt sein.

    Sabbaticals sind also nicht einfach Türöffner ins "Reich der Freiheit", sondern unterliegen - so ein wesentlicher Befund der empirischen Arbeit - einer je spezifischen Ambivalenz von Potenzialen und Zwängen. Zwar gelingt es den NutzerInnen mit dem zeitweiligen Ausstieg aus der Erwerbsarbeit sich ein besonderes Zeitfenster und neue persönliche Entfaltungschancen zu öffnen, doch reagieren sie damit zugleich auf sie bedrückende Zwänge und Heraus- oder Überforderungen des normalen Alltags. Werden Sabbaticals gewählt aus Mangel an anderen Handlungsalternativen, weil anders Gesundheits-, Familien-, Qualifizierungs- oder Selbstverwirklichungsinteressen nicht realisiert werden können, macht dies bislang ungelöste Konflikte in der modernen Arbeitsgestaltung deutlich. Für diese stellen aber Sabbaticals - so Barbara Siemers - häufig lediglich individuelle und nicht selten in ihren Wirkungen ambivalente Teilantwort dar.

    Abschließend gibt Barbara Siemers einen Ausblick auf arbeits-, sozial- und gesellschaftspolitische Handlungsperspektiven, mit denen die individuelle Nutzung von Sabbaticals verbessert, ihre gesellschaftliche Problemlösungskapazität ausgebaut und sie zu einer gesellschaftlich breiter akzeptierten und genutzten Arbeitszeitoption weiterentwickelt werden könnten.

    Für weitergehende Informationen:

    Universität Bremen
    Institut Arbeit und Wirtschaft (IAW)
    Dr. rer. pol. Barbara Siemers
    Tel. (0421) 218-3047 (Büro) oder 5970259 (privat)
    Email: bsiemers@iaw.uni-bremen.de
    Homepage: www.iaw.uni-bremen.de/FeA


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Gesellschaft
    überregional
    Forschungsergebnisse
    Deutsch


     

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