Die Entwicklung unseres Gehirns benötigt die richtigen Nährstoffe zur richtigen Zeit. Diese liefern die notwendige Energie für zelluläre Prozesse, die der Gehirnbildung zugrunde liegen. Was passiert aber, wenn diese Stoffe nicht verfügbar sind? Gaia Novarinos Forschungsgruppe am Institute of Science and Technology Austria (ISTA) zeigt nun: Ein Defizit an essenziellen Aminosäuren führt zu schweren Entwicklungsprobleme mit bleibenden Folgen bei Mäusen und Menschen.
Die Entwicklung des Gehirns basiert auf der exakten Abfolge koordinierter Schritte, welche hauptsächlich von unseren Genen gesteuert werden. Vor allem die Position und Funktionalität der Nervenzellen im Gehirn (Neuronen) ist entscheidend – nicht funktionierende oder falsch positionierte Neuronen können schwere neuropathologischen Folgen herbeiführen. Der Grund für diese neurologischen Entwicklungsstörungen sind meist Mutationen in Genen, die dieses Programm koordinieren. Aber auch Stressfaktoren, wie Nährstoffmangel oder Unterernährung, können die Entwicklung des Gehirns beeinflussen. Welche exakte Rolle jedoch der Stoffwechsel und seine Nährstoffe im sich entwickelnden Gehirn spielen, ist noch nicht geklärt.
Professorin Gaia Novarino und ihr Team am ISTA haben nun einen Teil dieses Mysteriums gelöst. Zusammen mit mehreren Wiener Universitäten erstellten die Wissenschafter:innen ein Profil des Nährstoffprogramms eines sich entwickelnden Mausgehirns. Dabei fanden sie eine Gruppe von Aminosäuren (Proteinbausteine), die eine Schlüsselrolle in bestimmten Phasen der Gehirnentwicklung spielt. Wurden den Nervenzellen genau diese Aminosäuren entzogen, führte dies nach der Geburt zu schwerwiegende Folgen. Die Mäuse entwickelten Mikrozephalie, eine Verkleinerung des Gehirns. Diese hielt bis ins Erwachsenenalter an und verursachte schließlich langfristige Verhaltensänderungen, die Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) ähneln. Die Ergebnisse wurden heute im Fachjournal Cell veröffentlicht.
Nährstoffe im Visier
Metaboliten sind Stoffe, die bei der Aufspaltung von Nahrungsmitteln entstehen oder verbraucht werden. Sie versorgen unseren Körper also mit Energie oder fungieren als zelluläre Bausteine. Eine Gruppe dieser Metaboliten, sogenannte LNAAs (large neutral amino acids), haben eine besondere Bedeutung. LNAAs sind essenzielle Aminosäuren, die der Körper nicht selbst herstellen kann, weshalb sie über die Nahrung aufgenommen werden müssen. „Wir beobachteten die Level verschiedener Metaboliten während der gesamten Gehirnentwicklung – dabei zeigte sich, dass LNAAs sehr wichtig für die Entwicklung von Nervenzellen nach der Geburt sind“, erklärt Autorin und PhD-Studentin Lisa Knaus. Bereits zuvor hatte die Novarino Gruppe eine neue Form von Autismus identifiziert, bei der die Patient:innen aufgrund eines Gendefekts im SLC7A5-Gen keine LNAAs in das Gehirn transportieren können. Dieser mögliche Zusammenhang weckte den Forscherdrang der jungen Wissenschafterin. „Unser Ziel war es, die Rolle dieser Aminosäuren in der Gehirnentwicklung genauer zu verstehen.“
Hungernde Nervenzellen
Im nächsten Schritt deaktivierten die Forscher:innen ein bestimmtes Gen in ausgewählten Mauszellen. Durch dieses sogenannte konditionale Knockout-Experiment entstand eine Linie von Mäusen ohne dieses Gen. Diese Linien werden anschließend mit gesunden Mäusen verglichen. So können die Wissenschafter:innen beurteilen, ob die Deaktivierung zu einer Veränderung von charakteristischen Merkmalen führt.
In diesem Fall deaktivierte die Forschungsgruppe das Gen Slc7a5, welches die Bauanleitung des Transporters enthält, der LNAAs in die Nervenzellen bringt. Kurz: Die Neuronen hungernden, da sie diese essenziellen Aminosäuren nicht mehr bekamen. Im Embryonalstadium schien die Gehirnbildung in Ordnung zu sein. Doch unmittelbar nach der Geburt zeigten die Nervenzellen die ersten Folgen des Mangels an LNAAs. In dieser Zeit entwickelten die genveränderten Mäuse eine Mikrozephalie: die Dicke der Großhirnrinde (die äußerste Schicht des Gehirns) war im Vergleich zu gesunden Mäusen deutlich geringer.
Das Absterben von Neuronen
Um mehr darüber zu erfahren, setzten die Wissenschafter:innen eine Methode zur Markierung und Manipulation einzelner Neuronen ein. Dadurch stellten sie fest, dass in den ersten Tagen nach der Geburt, ein großer Teil der Neuronen in der oberen Schicht der Großhirnrinde verschwand. Die Zellen starben ab – aber warum? Es stellte sich heraus, dass Neuronen, denen LNAAs fehlen, weniger aktiv sind. „Neuronen, die nicht richtig feuern, werden kurz nach der Geburt eliminiert. Wie bei der natürlichen Selektion, sind es nur die fittesten Zellen, die überleben“, erklärt Knaus.
Dauerhafte Veränderungen des Verhaltens
Nach dieser kritischen Periode normalisierten sich sowohl das Absterben als auch die Neuronenaktivität. Die deutlich geringere Gehirngröße blieb jedoch bis ins Erwachsenenalter bestehen. Die genveränderten Mäuse zeigten Verhaltensanomalien, unter anderem motorische Defizite, verändertes Sozialverhalten und Hyperaktivität. Diese Verhaltensmuster ähneln sehr stark denen von Patient:innen mit Mutationen im SLC7A5-Gen, die ebenfalls Mikrozephalie, Autismus und motorische Defizite aufweisen.
Knaus fasst zusammen: „Unsere Arbeit gibt uns einen detaillierten Einblick, wie selbst kleine Veränderungen des Stoffwechsels und der Nährstoffverfügbarkeit schwerwiegende Folgen für die Entwicklung und Funktion des Gehirns haben können.“
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Projektförderung
Dieses Projekt wurde vom Österreichischen Wissenschaftsfonds (FWF, DK W1232-B24) und vom European Union’s Horizon 2020 research and innovation program (ERC) grant 725780 (LinPro) für S. Hippenmeyer und 715508 (REVERSEAUTISM) für G. Novarino unterstützt.
Information zu Tierversuchen
Alle Tierprotokolle wurden vom Institutional Animal Care and Use Committee am ISTA und vom Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung, Österreich, genehmigt (Genehmigungsnummer: BMBWF-66.018/0015-V/3b/2019).
Für die menschlichen Teilnehmer:innen (Patient:innen und ihre Eltern) wurden die schriftliche Einwilligung nach Aufklärung und die Sammlung von Daten und Proben gemäß einem von der Ethikkommission der Medizinischen Universität Wien genehmigten Protokoll (Protokollnummer 1443/2020) eingeholt.
Über ISTA
Das Institute of Science and Technology Austria (ISTA) ist ein Forschungsinstitut mit eigenem Promotionsrecht. Es beschäftigt Professor:innen nach einem Tenure-Track-Modell, Post-Doktorand:innen und PhD-Student:innen. Die Graduate School des ISTA bietet hochqualifizierten Student:innen mit einem Bachelor- oder Masterabschluss in Biologie, Mathematik, Informatik, Physik, Chemie und verwandten Bereichen voll finanzierte Doktoratsstellen. Neben dem Bekenntnis zum Prinzip der Grundlagenforschung, die rein durch wissenschaftliche Neugier getrieben wird, setzt ISTA darauf, wissenschaftliche Erkenntnisse durch technologischen Transfer und Wissensvermittlung in die Gesellschaft zu tragen. Der aktuelle Präsident ist Martin Hetzer, ein renommierter Molekularbiologe und vormals Senior Vice President am The Salk Institute for Biological Studies in Kalifornien, USA.
www.ista.ac.at
Florian Schlederer
Florian.Schlederer@ista.ac.at
+43 664 8832 6174
L. S. Knaus, B. Basilico, D. Malzl, M. Gerykova Bujalkova, M. Smogavec, L. A. Schwarz, S. Gorkiewicz, N. Amberg, F.M. Pauler, C. Knittl-Frank, M. Tassinari, N. Maulide, T. Rülicke, J. Menche, S. Hippenmeyer & G. Novarino. 2023. Large neutral amino acid levels tune perinatal neuronal excitability and survival. Cell. DOI: 10.1016/j.cell.2023.02.037
https://www.cell.com/cell/fulltext/S0092-8674(23)00215-5
Die Puzzleteile zusammenfügen. Lisa Knaus vergleicht die Wissenschaft mit einem Detektivroman: Forsc ...
ISTA
Skizzierter histologischer Schnitt des Gehirns von erwachsenen Mäusen. Im Vergleich zu gesunden Tier ...
Lisa Knaus
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Merkmale dieser Pressemitteilung:
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Biologie
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Wissenschaftliche Publikationen
Deutsch
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