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06.04.2023 10:26

Happy, genervt, verängstigt - Tourismus und Wohnqualität in vier Berliner Kiezen

Stefanie Terp Stabsstelle Kommunikation, Events und Alumni
Technische Universität Berlin

    Eine Analyse in vier Berliner Kiezen, wie der Einfluss des Tourismus auf die Wohnqualität wahrgenommen wird, zeigt ein sehr differenziertes Bild

    „Wir können weder die Aussagen der Immobilienökonomen bestätigen, die sagen, dass der Einfluss des Tourismus auf die Erhöhung der Mieten in Berlin gering sei, noch die aus Medienberichten, dass der Berlin-Tourismus zur Gentrifizierung von Quartieren führt“, sagt Prof. Dr. Kristin Wellner, „zumindest nicht in dieser Generalisierung. Die Ergebnisse unseres Forschungsprojektes ‚Kiez in der Tourismusfalle‘ können aber dazu beitragen, die polarisierend geführten Debatten über die verschiedenen Ausprägungen des Berlin-Tourismus, der von den einen als Heilsbringer verklärt und von den anderen verteufelt wird, zu objektivieren.“

    Abhängig von der individuellen Lebenssituation
    2019 führte ein interdisziplinäres Team der TU Berlin und der TU Darmstadt in vier Berliner Kiezen – am Boxhagener Platz, im Reuterkiez, am Askanischen Platz und in der Scharnweberstraße – insgesamt 40 qualitative Interviews durch. Die Befragten kamen aus verschiedenen Bildungsschichten, Altersgruppen, waren unterschiedlichen Geschlechts und lebten unterschiedlich lange in den Quartieren. „Bislang wird städtischer Tourismus hauptsächlich hinsichtlich der Beziehung Tourist und Gastgeber untersucht. Wir aber wollten wissen, inwiefern der Tourismus die Wahrnehmung der Wohnqualität der Anwohnerinnen und Anwohner beeinflusst. Die Perspektive der Anwohnerinnen und Anwohner auf den Tourismus in den Blick zu nehmen ist neu“, sagt Dr. Claudia Ba, wissenschaftliche Mitarbeiterin in dem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekt. Ergeben habe sich, so Ba, ein sehr differenziertes Bild darüber, wie der Tourismus positiv oder negativ hinsichtlich der Wohnqualität wahrgenommen wird. „Unsere Interviews zeigen, dass das extrem von der individuellen Lebenssituation abhängt, ob man gut verdient, ob man ganz bewusst in so ein touristisches Viertel gezogen ist, weil man das Bunte, Laute sucht, oder ob man gerade eine größere Wohnung braucht, weil sich die Familie vergrößert. Mitnichten untermauern unsere Interviews die Aussagen aus 900 ausgewerteten Medienberichten, die ein überwiegend negatives Bild des Berlin-Tourismus zeichneten“, so Prof. Dr. Kirstin Wellner, Leiterin des TU-Fachgebiets Planungs- und Bauökonomie/Immobilienwirtschaft.

    Wohnqualität ist mehr als Lage, Ausstattung und Größe einer Wohnung
    Im Quartier Boxhagener Platz, dass durch klassische Hotellerie, Hostels und viele Airbnb-Ferienwohnungen und einen Wandel des Gewerbes und der Dienstleistungen geprägt ist, die dezidiert Touristen als Kunden im Blick haben, wurde der Tourismus sowohl als belebend und bereichernd, als auch als störend empfunden. „Insgesamt zeigte sich dort ein sehr ausdifferenziertes Meinungsbild“, so Prof. Dr. Kristin Wellner. Im Reuterkiez mit vielen Airbnb-Wohnungen und wenigen Hotels, der zu einem Szeneviertel aufsteigt, registrieren die Anwohner eine Tendenz zur Touristifizierung, was kritisch gesehen wird. Am Askanischen Platz ebenfalls mit viel klassischer Hotellerie, Jugendherbergen, aber weniger Airbnb-Ferienwohnungen fühlten sich die Befragten vor allem von den vielen Touristenbussen mit Schülern, zunehmendem Lärm und dem Schwinden von Parkplätzen gestört. „Werden die Alltagsräume von den Touristen mitgenutzt oder gar okkupiert, nehmen das die Anwohner im Viertel des Askanischen Platzes als problematisch wahr“, so Dr. Claudia Ba.

    Ganz anders das Bild in der Scharnweberstraße in Reinickendorf, bislang von Touristenströmen unbehelligt. „Dort wünschen sich die Bewohnerinnen und Bewohner unter anderem auch Tourismus, weil sie sich davon eine Aufwertung ihres Viertels versprechen, geknüpft an die Hoffnung – so formulierten es die Befragten –, dass dann die Anwohnerinnen und Anwohner aus Südosteuropa verdrängt würden, die sich dann die Mieten nicht mehr leisten könnten“, konstatiert Dr. Claudia Ba.

    Eine weitere neue Erkenntnis der Forschungen war, dass der Begriff der Wohnqualität, der in der Immobilienbranche oft nur durch die Lage, die Ausstattung und die Größe einer Wohnung bestimmt wird, von den Menschen viel weiter gefasst wird und die Bewertung stark davon beeinflusst ist, ob man in seiner Wohnung, im Haus und im Wohnumfeld über ein hohes Maß an Autonomie verfügt, die zum Beispiel über das eigene Bleiben entscheidet. Autonomie meint hier die Eigenbestimmung darüber, wo man wohnt, ob man Einfluss nehmen kann auf das Leben im Haus und Kiez und ob man Gleichgesinnte um sich hat, mit denen man sich über ähnliche Lebenslagen sowie geteilte Normen und Werte austauschen kann.

    Furcht vor Verdrängung
    „Wir haben in allen vier Quartieren eine Befürchtung vor Verdrängung durch Aufwertungen sowie steigende Mieten registriert. Wir sprechen in diesem Zusammenhang von einer Verdrängungsfurcht“, sagt Dr. Claudia Ba. Und an diesen Wahrnehmungen steigender Mieten und die sukzessive Verdrängung der angestammten Bewohnerinnen und Bewohner habe auch der Tourismus einen Anteil. Denn wenn Wohnungen in Ferienwohnungen umgewandelt würden, verknappe sich das Gut Wohnung, das Angebot sinkt und die Miete steigt. „Aber“, ergänzt Wellner, „wir können es nicht quantitativ bemessen, um wie viel Cent eine Airbnb-Wohnung die Mieten im Umkreis von 300/400 Metern steigen lässt. Diese Berechnung müsste zu viele unbekannte, verfälschende Einflüsse auf die Mietentwicklung berücksichtigen wie beispielsweise den allgemeinen Mietanstieg aufgrund von Bevölkerungszuwachs und die steigenden Einkommen. Der Effekt der Ferienwohnungen ist nicht wissenschaftlich korrekt eliminierbar und damit nicht bestimmbar.“

    Neben dem Wunsch nach Sicherheit, die eigene Wohnung als Rückzugsort behalten zu können, spielen auch Aspekte der Umwelt wie Lärm und Schmutz sowie die Einbindung in die Nachbarschaft eine wichtige Rolle, ob die Wohnqualität als gut oder schlecht wahrgenommen wird. Prof. Dr. Kristin Wellner: „Diese Faktoren sind für die Berlinerinnen und Berliner, so unsere Feststellung, für die Wohnzufriedenheit entscheidender als Fußbodenheizung oder freistehende Badewanne.“

    Weitere Informationen erteilen Ihnen gern:
    Prof. Dr. Kirstin Wellner
    TU Berlin
    Fachgebiet Planungs- und Bauökonomie/Immobilienwirtschaft
    Tel.: 030/314-21829
    E-Mail: kristin.wellner@tu-berlin.de

    Dr. Claudia Ba
    TU Darmstadt
    Stadt- und Raumsoziologie
    Tel.: 06151/16 57344
    E-Mail: ba@ifs.tu-darmstadt.de


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten
    Gesellschaft
    überregional
    Forschungsergebnisse
    Deutsch


     

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