Vorläufiges Abschluss-Symposium am 25./26. April 2023 in Weimar
Seit 2019 forschen Arbeitsgruppen an fünf deutschen Hochschulstandorten zur Geschichte der Psychiatrie, Psychotherapie und Psychologie im Gesundheitswesen der DDR. Das Verbundprojekt „Seelenarbeit im Sozialismus“ wurde umfangreich vom Bundesforschungsministerium gefördert. Im April 2023 läuft die erste Förderperiode des Projekts aus. Im vorläufigen Abschluss-Symposium in Weimar werden Ergebnisse aus den Teilprojekten öffentlich präsentiert, diskutiert und offene Fragen formuliert.
Der Forschungsverbund setzte sich mit der Rolle der „Psycho“-Fächer im Gesundheitswesen der DDR auf methodisch unterschiedliche Weise auseinander. Gefragt wurde nach theoretischen und inhaltlichen Entwicklungen und Konzepten, nach ideologischer Einflussnahme sowie nach möglichen Nischen und dem therapeutischen Alltag in der DDR. Im Zentrum standen auch ethische Aspekte – etwa Fragen zum Missbrauch oder der klinischen Versorgung.
Die einzelnen Verbundpartner aus Jena, Rostock/Greifswald, Dortmund und Erlangen forschten zu jeweils eigenen Schwerpunkten. Umfangreich ausgewertet wurden Unterlagen staatlicher und institutioneller Archive, Literatur der DDR und der Bundesrepublik. Außerdem wurden Interviews sowohl mit einstigen Verantwortlichen als auch mit Patienten geführt und ausgewertet. Aktuell wurden noch Befragungen größerer Stichproben von Ost- und Westdeutschen und „Binnenmigranten“ zu den Themen des Verbundes durchgeführt. Ein wesentliches Ziel der Verbundforschung war und ist, die Ergebnisse für die Öffentlichkeit aufzuarbeiten und entsprechende Erkenntnisse in künftige Forschung und Bildungsprogramme zu integrieren. Beantragt wurde bereits eine zweite Forschungsperiode, in der unter anderem eine Ausstellung zur Entwicklung der „Psycho“-Disziplinen in der DDR weiter entwickelt werden soll.
Die Arbeitsgruppe am Institut für Psychosoziale Medizin, Psychotherapie und Psychoonkologie am Universitätsklinikum Jena, Sitz der Verbundkoordination, fokussierte auf das Gebiet der Psychotherapie. Die Psychotherapiegeschichte in der DDR wurde u.a. anhand systematischer Literaturanalysen und anhand zahlreicher Zeitzeugeninterviews aufgearbeitet. Zu letzteren werden in Weimar die Ergebnisse von Fallrekonstruktionen zusammengefasst. Diese zeigen, dass die Rolle der jeweiligen individuellen Bildungszugänge, ihrer Bildungswege und ihrer individuellen Handlungspraxis in Relation zum Einfluss des politischen Systems und der Fähigkeit zur Übernahme einer professionellen Haltung zu sehen sind. Erstmalig präsentiert werden Ergebnisse zu Psychotherapieerfahrungen älterer und jüngerer Ostdeutscher, die in einer repräsentativen Befragung erhoben wurden.
In dem an den Universitätsmedizinen Rostock und Greifswald angesiedelten Teilprojekt Psychiatrie in der DDR unter Leitung von Ekkehardt Kumbier und Hans J. Grabe stießen die Wissenschaftlerinnen auf ein widersprüchliches Bild. Die Psychiatrie fungierte einerseits als medizinisch-helfende, manchmal sogar schützende Institution. Auf der anderen Seite ist ihr repressiver Charakter unverkennbar: Medizinisch nicht indizierte Einweisungen, Schweigepflichtsverletzungen durch medizinisches Personal, Vernachlässigungen des Fachgebietes und damit ihrer Insassen durch politische Entscheidungsträger sind allerorts nachweisbar. „Wie nicht selten in der Diktatur“, so die Historikerin Kathleen Haack, „wurde auch in der Psychiatrie der DDR ein Geflecht von Autoritäten geknüpft, in dem der einzelne DDR-Bürger gleichzeitig aufgefangen und gefangen war“.
An der Fachhochschule Dortmund wurde im Teilprojekt „Psychologie unter politischem Diktat und Justiz“ die akademische Psychologie in der DDR untersucht: Publikationen und inhaltliche Schwerpunkte wurden erfasst und daneben umfangreiches Material aus dem Ministerium für Staatssicherheit recherchiert, das sich psychologischer Fachkenntnisse und Methoden bediente, um inoffizielle Stasi-Mitarbeiter*innen zu rekrutieren als auch psychologisches Fachwissen zu Repressionszwecken gegen DDR-Bürger*innen u. a. bei Zersetzungsvorgängen oder bei Vernehmungen nutzbar zu machen. „Prozesse der psychischen Orientierung wurden mit Hilfe psychologischen Fachwissens manipulierbar“, so die Projektleiterin Prof. a. D. Dr. Susanne Guski-Leinwand.
Im Teilprojekt der Universität Erlangen-Nürnberg beschäftigte sich Rainer Erices mit Aspekten des DDR-Gesundheitswesens. Er zeigt, wie die DDR wissenschaftliche Gesellschaften normierte, analysierte die Konflikte innerhalb der Gesundheitspolitik der 1980er Jahre und fand neue Quellen zum Missbrauch der Psychiatrie der DDR. Erices: „Wir haben unheimlich viele Akten des Bundesarchivs ausgewertet, teilweise zum ersten Mal. Eindrucksvoll waren beispielsweise die Hilflosigkeit von Partei- und Gesundheitsfunktionären gegen Ende der DDR, die hohe Anzahl von Spitzeln in den Psycho-Disziplinen oder auch Nebenaspekte wie die psychophysiologische Forschung innerhalb des MfS.“
Das Symposium in Weimar findet hybrid statt. Eine Teilnahme vor Ort ist möglich – um Anmeldung wird gebeten. Die Teilnahme (Präsenz oder online) ist kostenfrei.
Termin: 25./26.04.2023
Ort: Jugend-, Kultur- & Bildungszentrum „mon ami“, Goetheplatz 11, 99423 Weimar
Anmeldung: sisap@med.uni-jena.de
Der Forschungsverbund „Seelenarbeit im Sozialismus — SiSaP“ wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) im Rahmen eines Programms zur Förderung von Forschungsvorhaben auf dem Gebiet der DDR-Forschung finanziert.
Prof. Dr. phil. Bernhard Strauß
Institut für Psychosoziale Medizin, Psychotherapie und Psychoonkologie, Universitätsklinikum Jena
Bernhard.Strauss@med.uni-jena.de
03641 9 398020
http://seelenarbeit-sozialismus.de Projekthomepage
Sitzgruppe in der Psychotherapieabteilung der Universität Leipzig in den 1960er Jahren.
SiSaP-Projekt (Privatbestand M. Geyer).
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten
Geschichte / Archäologie, Gesellschaft, Medizin, Politik, Psychologie
überregional
Forschungsergebnisse
Deutsch
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