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05.05.2023 09:23

Chemisches Signal schützt Wanderheuschrecken vor Kannibalismus

Angela Overmeyer Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Max-Planck-Institut für chemische Ökologie

    Forschende des Max-Planck-Instituts für chemische Ökologie zeigen in einer neuen Studie in der Zeitschrift Science zusammen mit Partnern aus China und der Universität Halle, dass die Europäische Wanderheuschrecke Locusta migratoria die Verbindung Phenylacetonitril (PAN) bildet, um sich bei zunehmender Populationsdichte gegen Fraßangriffe durch Artgenossen zur Wehr zu setzen. Bei Heuschrecken, die diesen Wirkstoff nicht mehr produzieren konnten, nahm die Kannibalismusrate zu. Außerdem identifizierten die Forschenden in den Heuschrecken den Geruchsrezeptor für PAN. Die Entdeckung eines Anti-Kannibalismus-Pheromons bietet neue Ansätze für die Heuschreckenbekämpfung

    Riesige Schwärme von Wanderheuschrecken nehmen das Ausmaß von Naturkatastrophen ein und bedrohen vor allem in Afrika und Asien die Nahrungsmittelversorgung von Millionen von Menschen. Als achte der zehn biblischen Plagen wird bereits im Buch Mose des Alten Testaments beschrieben, wie Heuschreckenschwärme den Himmel verfinsterten und alles auffraßen, was auf den Feldern und an den Bäumen wuchs. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vermuten, dass Kannibalismus unter den Heuschrecken zu ihrem Schwarmverhalten beiträgt, und Schwärme deshalb ständig weiterziehen, weil einzelne Tiere buchstäblich ständig auf der Flucht vor den sie verfolgenden Artgenossen sind. „Wir fragten uns, wie sich diese Insekten innerhalb der riesigen Schwärme gegenseitig in ihrem Verhalten beeinflussen, und ob der Geruchssinn dabei eine Rolle spielt. Eine wichtige Grundlage waren für uns die Untersuchungen zur Entstehung von Heuschreckenschwärmen von Iain Couzin vom Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie in Konstanz,“ erläutert Studienleiter Bill Hansson, Direktor der Abteilung Evolutionäre Neuroethologie am Max-Planck-Institut, die Ausgangslage der Studie.

    Wanderheuschrecken kommen in unterschiedlichen Phasen vor: In der solitären Phase leben die Insekten einzeln und ortstreu, während sie in der gregären Phase das typische Schwarmverhalten zeigen, die zu ihrer Bezeichnung als Wanderheuschrecken passt. „In den meisten Fällen befinden sich Heuschrecken in der solitären Phase, in der sie den physischen Kontakt mit Artgenossen meiden und vergleichsweise wenig Nahrung zu sich nehmen. Nimmt die Populationsdichte aufgrund von Regenfällen und ausreichend Nahrung zu, verändern Heuschrecken innerhalb weniger Stunden ihr Verhalten, sie können einander riechen, sehen und berühren. Diese drei Arten der Stimulation erhöhen den Serotonin- und Dopaminspiegel im Heuschreckenhirn, was dazu führt, dass aus den solitären Heuschrecken aggressive gregäre Heuschrecken werden, die sehr aktiv sind und einen großen Appetit haben. Außerdem setzen sie Aggregationspheromone frei, was schließlich zu Schwarmbildung führt und die landwirtschaftliche Produktion bedroht. Nur in der gregären Phase kommt es zu Kannibalismus,“ erläutert der Erstautor der Studie Hetan Chang.

    Verhaltensexperimente mit der Europäischen Wanderheuschrecke Locusta migratoria zeigten, dass die Kannibalismusrate zunahm, je mehr gregäre Tiere zusammen in einem Käfig gehalten wurden. Es gibt also einen direkten Zusammenhang zwischen Populationsdichte und kannibalistischem Verhalten. Um herauszufinden, ob gregäre Heuschrecken besondere Düfte abgeben, die in der solitären Phase nicht produziert werden, analysierte das Forschungsteam alle Duftstoffe, die von solitären und gregären Heuschrecken im Jugendstadium abgegeben werden, und glich sie ab. Von den 17 Düften, die nur in der gregären Phase gebildet wurden, stellte sich in Verhaltenstests nur Phenylacetonitril (PAN) als Duftsignal heraus, das auf andere Heuschrecken abschreckend wirkte. Für eine weitere Bestätigung für die Funktion von PAN nutzten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler genetisch modifizierte Heuschrecken, die PAN nicht mehr produzieren konnten. „Wir zeigten, dass bei zunehmender Populationsdichte nicht nur das Ausmaß des Kannibalismus zunahm, sondern dass die Tiere parallel dazu auch mehr PAN produzierten. Mittels Genom-Editierung gelang es uns, ein Enzym auszuschalten, das für die Produktion dieser Verbindung verantwortlich ist. So konnten wir seine stark antikannibalistische Wirkung bestätigen, denn der Kannibalismus wurde noch einmal deutlich gesteigert, wenn die Tiere nicht mehr in der Lage waren, die Verbindung zu produzieren,“ sagt Hetan Chang.

    Die größte Herausforderung bestand darin, den Geruchsrezeptor zu finden, der PAN erkennt. Da Heuschrecken mehr als 140 Geruchsrezeptor-Gene haben, musste das Forschungsteam so viele Gene wie möglich klonen und eines nach dem anderen testen. Tests an 49 verschiedenen Geruchsrezeptoren unter Verwendung von mehr als 200 relevanten Düften führten schließlich dazu, den Duftrezeptor OR70a als einen hochempfindlichen und spezifischen Detektor für PAN in der Europäischen Wanderheuschrecke zu identifizieren. Verhaltensexperimente mit genetisch veränderten Heuschrecken, deren OR70a-Rezeptor nicht mehr funktionierte, wiesen wiederum eine stark erhöhte Kannibalismusrate auf, was darauf zurückzuführen ist, dass das Kannibalismus-Stoppsignal von den Heuschrecken ohne den entsprechenden Rezeptor nicht mehr wahrgenommen werden kann.

    Ein Pheromon, das Kannibalismus steuert, ist eine absolute Neuentdeckung. Da Kannibalismus einen großen Einfluss auf die Schwarmdynamik von Heuschrecken hat, ergeben sich aus dem grundlegenden Verständnis der Populationsökologie dieser Tiere, insbesondere der Wirkung von PAN, neue Möglichkeiten, die Ausbreitung von Heuschrecken einzudämmen. „Wenn man die Produktion von PAN oder die Funktion des Rezeptors hemmt, könnte man die Heuschrecken dazu bringen, sich kannibalistischer zu verhalten und sich auf diese Weise möglicherweise selbst zu bekämpfen,“ meint Bill Hansson.


    Wissenschaftliche Ansprechpartner:

    Dr. Hetan Chang, Max-Planck-Institut für chemische Ökologie, Hans-Knöll-Straße 8, 07745 Jena, Tel. +49 3641 571460, E-Mail hchang@ice.mpg.de

    Prof. Dr. Bill S. Hansson, Max-Planck-Institut für chemische Ökologie, Hans-Knöll-Straße 8, 07745 Jena, Tel. +49 3641 571400, E-Mail hansson@ice.mpg.de


    Originalpublikation:

    Chang, H., Cassau, S., Krieger, J., Guo, X., Knaden, M., Kang, L., Hansson, B. S. (2023) A chemical defense deters cannibalism in migratory locusts. Science, doi: 10.1126/science.ade6155


    Bilder

    Kannibalistische Fraßattacke: Eine Europäische Wanderheuschrecke der Art Locusta migratoria verspeist eine Artgenossin. Kannibalismus wird als einer der wesentlichen Treiber für das verheerende Schwarmverhalten von Heuschrecken angesehen.
    Kannibalistische Fraßattacke: Eine Europäische Wanderheuschrecke der Art Locusta migratoria verspeis ...
    Benjamin Fabian
    CC BY

    Hetan Chang und Bill Hansson beobachten Heuschrecken im Labor
    Hetan Chang und Bill Hansson beobachten Heuschrecken im Labor
    Anna Schroll
    CC BY


    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten
    Biologie
    überregional
    Forschungsergebnisse
    Deutsch


     

    Kannibalistische Fraßattacke: Eine Europäische Wanderheuschrecke der Art Locusta migratoria verspeist eine Artgenossin. Kannibalismus wird als einer der wesentlichen Treiber für das verheerende Schwarmverhalten von Heuschrecken angesehen.


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