Die Obdachlosigkeit als schwerste Form der Armut will die Europäische Union bis 2030 wirksam bekämpfen. Um das zu erreichen, werden die Hilfesysteme für wohnungslose Menschen in Deutschland ausgebaut und weiterentwickelt. Im Rahmen des Aktionsplans „Hilfen bei Obdachlosigkeit“ entstehen auch in Nordbayern Modellprojekte, die das erreichen sollen. Ein Forschungsprojekt der Fakultät Sozialwissenschaften an der Technischen Hochschule Nürnberg Georg Simon Ohm (Ohm) untersucht, wie solche Modellprojekte die Hilfenetze vor Ort beeinflussen.
Wohnungsnot und Wohnungslosigkeit werden zunehmend zum drängenden Problem. Die Wohnungsnot in Deutschland verschärft sich zum Beispiel, weil Miet- und Energiekosten steigen, weil die Inflation für allgemein steigende Preise sorgt oder weil es immer mehr Bevölkerungsgruppen gibt, die nach bezahlbarem Wohnraum suchen müssen. Immer mehr junge Menschen oder Bevölkerungsgruppen im Niedriglohnsektor sind von Wohnungslosigkeit bedroht. Die Hilfesysteme vor Ort müssen auf solche gesellschaftlichen Veränderungen reagieren und ihre Angebote anpassen. Da diese Systeme aber aus einem komplexen Netzwerk an Akteur*innen aus den Kommunen, Landkreisen und sozialen Diensten der Freien Wohlfahrtspflege bestehen, ist für solche Anpassungen eine enge Zusammenarbeit notwendig.
„Wie die Akteur*innen in den lokalen Hilfenetzen zusammenarbeiten, unterscheidet sich in jeder Region und Stadt“, erklärt Prof. Dr. Frank Sowa, der gemeinsam mit Dr. Nora Sellner das Forschungsprojekt an der Ohm leitet. Wie die Modellprojekte im Rahmen des Aktionsplans „Hilfe bei Obdachlosigkeit“ dieses Hilfenetz in Bewegung bringen und ob sie es verbessern, wurde zuvor noch nicht wissenschaftlich untersucht. Um wichtige Aspekte und Muster zu finden, geht das Forschungsteam, zu dem auch die wissenschaftliche Mitarbeiterin Dr. Anna Xymena Tissot gehört, mit einem explorativen und qualitativen Ansatz vor, der Expertise aus der Soziologie und aus der Sozialen Arbeit verbindet. Ausgangspunkt des Forschungsprojekts ist außerdem die in der Kritik stehende ordnungsbehördliche Unterbringung obdachlos gewordener Menschen. Die Unterbringung ist in vielen Fällen nicht menschenwürdig und es fehlt ein direkter Zugang zu sozialen Hilfen. Dies verursacht eine weitere soziale Exklusion und führt zu einer Verfestigung der Armut.
Die Studie untersucht, wie die komplexen „Netze der Akteur*innen“ in der jeweiligen Region aufgebaut sind. Wie läuft die Zusammenarbeit? Gibt es Konkurrenz? Wie hat sich das Hilfesystem durch neue Modellprojekte verändert? Welchen Einfluss hat das auf die beteiligten Fachkräfte und auf die wohnungslosen Menschen? Um diese und weitere Fragen beantworten zu können, werden in vier Regionen Nordbayerns leitfadengestützte Expert*innen-Interviews mit den relevanten Akteur*innen geführt: So werden die Perspektiven kommunaler Vertreter*innen, der Fachkräfte aus etablierten Angeboten und der Fachkräfte aus Modellprojekten miteinbezogen. „Die unterschiedlichen Perspektiven hinsichtlich des Wandels vor Ort zu untersuchen und diese im Vergleich und in Bezug zum städtischen und ländlichen Raum zu betrachten, ermöglicht eine Weiterentwicklung der Theorie und Praxis der Wohnungsnotfallhilfe in und über Nordbayern hinaus“, erklärt Sowa. „Besonders relevant werden hier die Erkenntnisse zur Kooperation und Zusammenarbeit der Hilfen und Angebote des Ordnungs- und Sozialrechts sein, die gemeinsam das Hilfesystem für wohnungslose Menschen begründen.“
Das Projekt wird vom Bayerischen Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales (StMAS) geförderte und ist auf ein Jahr angelegt. Es verfolgt zusammenfassend das Ziel, den durch die Modellprojekte verstärkt einsetzenden Wandel der lokalen Hilfesysteme für wohnungslose Menschen in all seiner Komplexität nachzuvollziehen. Auf dieser Basis werden Handlungsempfehlungen für die Wohnungsnotfallhilfe und die Politik entwickelt.
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