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07.07.2023 11:04

„Badewannen-Mord“: Freispruch nach Gutachten von Simulationsforschern

Andrea Mayer-Grenu Stabsstelle Hochschulkommunikation
Universität Stuttgart

    Stuttgarter Wissenschaftler rekonstruierten Sturz und grenzten Todeszeitpunkt ein. Dadurch wurde eine Wiederaufnahme des Falles ermöglicht.

    Gutachten der Professoren Syn Schmitt und Niels Hansen vom Exzellenzcluster „Daten-integrierte Simulationswissenschaft (EXC 2075, SimTech) der Universität Stuttgart haben dem 63-jährigen Manfred Genditzki, der mehr als 13 Jahre unschuldig hinter Gittern saß, zum Freispruch verholfen. Anhand einer neuen computergestützten biomechanischen Simulationsmethode und thermodynamischer Berechnungen konnten sie nachweisen, dass eine damals 87-jährige Frau ohne Fremdeinwirkung in ihre Badewanne gestürzt und an den Folgen dieses Sturzes zu einem Zeitpunkt gestorben sein konnte, als der Beschuldigte ein Alibi hatte. Das Gericht sah es nun als erwiesen an, dass der Mann unschuldig ist.

    „Tatsächlich ist es in Bayern noch nie zur Aufhebung einer lebenslangen Freiheitsstrafe im Rahmen einer Wiederaufnahme gekommen. Der Freispruch Genditzkis ist somit ein historischer Sieg“, so der Hamburger Rechtsanwalt Dr. Gerhard Strate. Die Stuttgarter Simulationsmethoden hatten maßgeblichen Anteil daran.

    „Wir freuen uns, dass wir mit Simulationswissenschaft einen wichtigen Beitrag in diesem Prozess leisten konnten“, sagen die Simulationswissenschaftler Prof. Syn Schmitt und Prof. Niels Hansen zum Ausgang des Prozesses und Schmitt ergänzt: „Zum ersten Mal wurde das von uns mitentwickelte, biomechanische Simulationsverfahren als Beweismethode vor Gericht anerkannt. Das ist ein großer Erfolg für unsere Wissenschaft und insbesondere für das Stuttgarter Exzellenzcluster Daten-integrierte Simulationswissenschaft.“

    Zahlreiche Simulationen zur Rekonstruktion der Abläufe

    Das Team um Syn Schmitt führte zahlreiche Simulationen zur Rekonstruktion möglicher Abläufe im Badezimmer durch. Mithilfe der biologischen Daten der verstorbenen Frau wie Größe, Gewicht, der spezifischen Gewichtsverteilung bei älteren Personen und der Knochenlänge entwarfen die Wissenschaftler*innen ein personen-spezifisches Modell und rekonstruierten den Vorgang. Die Frage war, ob ein Sturzgeschehen ohne Fremdeinwirkung aus einer Anfangssituation – Frau vor der Badewanne stehend – zu einer Endlage führen kann, die mit dem vorgefundenen Endzustand übereinstimmt. Mit Endzustand ist die Leiche gemeint, wie sie in der Badewanne lag, mit zwei Hämatomen am Kopf, die Schuhe und der Stock der Toten vor der Wanne.
    Wegweisend für andere Verfahren

    Alle Simulationen führten zum gleichen Ergebnis: Ein Sturz ohne Fremdeinwirkung war wahrscheinlich, so dass es sich um einen Unfall gehandelt haben konnte. „Unsere Methode ist in der Lage, objektiv und transparent zu untersuchen, welche Bewegungen abhängig von den Gesetzen der Physik möglich sind“, erklärt Syn Schmitt. Auch die Experimente und theoretischen Berechnungen von Niels Hansen zur Eingrenzung der Wassertemperatur zum Zeitpunkt der Auffindung des Leichnams entlasteten Manfred Genditzki. Ein darauf aufsetzendes, etabliertes Verfahren zur temperaturgestützten Todeszeitschätzung legte den wahrscheinlichen Todeszeitpunkt weit außerhalb des eigentlich angenommenen Tatzeitpunkts fest. „Die thermodynamische Analyse war somit ein wichtiger Baustein und könnte in anderen Verfahren zum Einsatz kommen,“ sagt Niels Hansen zum Ausgang des Prozesses.

    Lieselotte Kortüm war im Jahr 2008 tot in ihrer Badewanne aufgefunden worden. Der Hausmeister der Wohnanlage, Manfred Genditzki, geriet in Verdacht, die Frau ermordet zu haben. Obwohl er den ursprünglichen Vorwurf, Geld gestohlen zu haben, entkräften konnte, wurde er des Mordes schuldig gesprochen. Denn die Tote hatte zwei Hämatome am Kopf, weshalb angenommen wurde, dass es vorab zu einem handgreiflichen Streit zwischen ihr und Manfred Genditzki gekommen sei. Dieser beteuerte jedoch bis zuletzt seine Unschuld.

    Nach vier Jahren Haftzeit übernahm die Rechtsanwältin Regina Rick die Verteidigung von Genditzki und beauftragte unter anderem Professor Syn Schmitt von der Universität Stuttgart mit einem Gutachten, um die Wiederaufnahme des Falles zu erwirken. Schmitt forscht im Exzellenzcluster SimTech an der Simulation biomechanischer Systeme. Schon bei der Revision im Jahr 2011 wurde er vom damaligen Verteidiger als Sachverständiger angefragt, was vom damaligen Gericht jedoch abgelehnt wurde. Inzwischen ist die von den Stuttgarter Wissenschaftler*innen entwickelte Methode vom Oberlandesgericht München anerkannt und wurde in diesem Fall zum ersten Mal in einem rechtsmedizinischen Gutachten eingesetzt.

    Biomechanische und Thermodynamische Gutachten

    Im August 2022 entschied das Landgericht München I nach Anhörung der Sachverständigen, dass die Wiederaufnahme des Verfahrens begründet sei und eine neue Hauptverhandlung stattfinden müsse. Der wegen Mordes verurteilte und seit mehr als 13 Jahren in Haft sitzende Genditzki wurde mangels dringenden Tatverdachts sofort freigelassen. Begründet wurde dies hauptsächlich mit der veränderten Beweislage aufgrund des biomechanischen Gutachtens von Schmitt und des thermodynamischen Gutachtens von Professor Niels Hansen, ebenfalls Simulationswissenschaftler im Exzellenzcluster SimTech. Hansens Forschung liegt im Bereich Technische Thermodynamik und Thermische Verfahrenstechnik und half, den wahrscheinlichen Todeszeitpunkt auf Zeiten einzugrenzen, für die der Hausmeister ein Alibi vorweisen konnte.

    Über das Exzellenzcluster "Daten-integrierte Simulationswissenschaft (EXC 2075, SimTech)"

    Der Exzellenzcluster EXC 2075 "Datenintegrierte Simulationswissenschaft (SimTech)" ist ein interdisziplinärer Forschungsverbund mit mehr als 200 Wissenschaftler*innen, die gemeinsam an einem Ziel forschen: eine neue Klasse von Modellierungs- und Berechnungsmethoden, die den Einsatz von Simulation und Daten auf ein neues Niveau heben und für verschiedene Anwendungskontexte verfügbar machen.


    Wissenschaftliche Ansprechpartner:

    Prof. Syn Schmitt und Prof. Niels Hansen stehen gerne für Interviews zur Verfügung.

    Prof. Syn Schmitt, Universität Stuttgart, Institut für Modellierung und Simulation Biomechanischer Systeme, Tel. +49 711 685 60484, E-Mail: schmitt@simtech.uni-stuttgart.de

    Prof. Niels Hansen, Universität Stuttgart, Institut für Technische Thermodynamik und Thermische Verfahrenstechnik, Tel. +49 711 685 66112, E-Mail: hansen@itt.uni-stuttgart.de


    Weitere Informationen:

    http://Weitere Informationen zur Forschung von Prof. Syn Schmitt: Beitrag „Muskulatur und Maschinen“, Magazin forschung leben 1/2023


    Bilder

    Prof. Syn Schmitt erklärt, auf welche Weise die biomechanische Simulationsmethode den Vorfall rekonstruieren kann.
    Prof. Syn Schmitt erklärt, auf welche Weise die biomechanische Simulationsmethode den Vorfall rekons ...

    Universität Stuttgart/Kovalenko

    Das thermodynamische Gutachten von Prof. Niels Hansen half bei der Eingrenzung des Todeszeitpunktes.
    Das thermodynamische Gutachten von Prof. Niels Hansen half bei der Eingrenzung des Todeszeitpunktes.

    Universität Stuttgart/Kovalenko


    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten, Wissenschaftler
    Informationstechnik, Maschinenbau, Medizin, Recht
    überregional
    Buntes aus der Wissenschaft, Forschungs- / Wissenstransfer
    Deutsch


     

    Prof. Syn Schmitt erklärt, auf welche Weise die biomechanische Simulationsmethode den Vorfall rekonstruieren kann.


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    Das thermodynamische Gutachten von Prof. Niels Hansen half bei der Eingrenzung des Todeszeitpunktes.


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