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05.09.2023 13:22

ERC Starting Grants für zwei Forschende der Charité

Manuela Zingl GB Unternehmenskommunikation
Charité – Universitätsmedizin Berlin

    Zwei Forschende der Charité – Universitätsmedizin Berlin und des Berlin Institute of Health in der Charité (BIH) haben den Europäischen Wissenschaftsrat mit ihren Ideen überzeugt. Die Professorin für Geschichte der Medizin Birgit Nemec wird sich dem Engagement von Patient:innen mit arzneimittelbedingten Behinderungen sowie dem Wandel im Umgang mit Risiken seit der Contergan-Katastrophe widmen. Der Biomathematiker Dr. Maik Pietzner ergründet mögliche neue Ziele für Therapien bei häufigen, aber oft vernachlässigten Erkrankungen. Die Forschenden erhalten für die Umsetzung ihrer innovativen Projekte und den Aufbau einer Arbeitsgruppe in den kommenden fünf Jahren jeweils rund 1,5 Millionen Euro.

    ERC Starting Grants gehören zu den höchsten europäischen Auszeichnungen. Sie ermöglichen Spitzenforschung in einem breiten Spektrum von Disziplinen. Forschende, die am Anfang ihrer Karriere stehen, können so eigene Projekte starten, Teams bilden und Ideen verfolgen. Der Europäische Forschungsrat hat heute die Vergabe von 400 Starting Grants an junge Wissenschaftler:innen in ganz Europa bekanntgegeben. Unter ihnen erneut zwei Forschende der Charité und des BIH.

    Arzneimittelbedingte Behinderungen: Von Patient:innen lernen

    Sie hatten Namen wie Primodos, Duogynon, Depakine oder Contergan. Es handelte sich um Präparate zum Ausschluss oder zur Bestätigung einer Schwangerschaft, um Antiepileptika oder um Medikamente, die Schlaflosigkeit und Beschwerden in der Schwangerschaft lindern sollten. Allen gemeinsam: Kinder, deren Mütter Arzneimittel dieser Art während der Schwangerschaft eingenommen hatten, kamen mit mitunter schwerwiegenden Behinderungen zur Welt. Einige der Wirkstoffe werden noch heute eingesetzt, allerdings in genau definierten Anwendungsgebieten. Lange kämpften – und kämpfen zum Teil noch immer – Betroffene und Angehörige um Anerkennung ihrer Behinderung als Folge einer Medikation und um Entschädigung. Eine der größten medizinischen Katastrophen in diesem Zusammenhang war die Verwendung von Thaliomid, eines Wirkstoffes, der 1957 als Schlaf- und Beruhigungsmittel unter dem Namen Contergan auf den Markt kam.

    Der Nachweis eines direkten Zusammenhangs von vorgeburtlicher Medikamenteneinnahme und Fehlbildungen oder anderen Schädigungen ist oft schwer zu erbringen. In der ganzen Welt haben sich daher insbesondere in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts Patient:innengruppen gegründet und miteinander vernetzt. Im Schulterschluss oder als einzelne Gruppierungen rangen und ringen sie um Aufklärung, Ursachenforschung und Anerkennung ihrer Behinderungen. Beyond Thalidomide – Thaliomide und darüber hinaus: Patient:innen als wirkmächtige Akteure für Wandel und Innovation – ist der Titel des neuen Vorhabens von Prof. Nemec. Die Medizinhistorikerin wird den internationalen Anstieg des Engagements von Patient:innen mit arzneimittelbedingten Behinderungen nachzeichnen.

    „Wir wollen verstehen, wie diese neuen Akteure in der Zivilgesellschaft und in der Wissenschaft die Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit verändert haben“, erklärt Prof. Nemec. „Sie haben eine Dringlichkeit geschaffen, mit der wir bis heute konfrontiert sind. Es ist erstaunlich, dass es bis heute keine geschichtliche Aufarbeitung darüber gibt, wie sich Betroffene verhalten.“ Wie also handeln und organisieren sich die Patient:innen? Wie aktivieren und eignen sie sich Ressourcen an? Wie tragen sie zu Wandel und Umdenken bei? Umfangreiche historische Recherchen, Bibliotheks- und Archivarbeit in Verbindung mit Zeitzeugeninterviews in vielen Ländern der Erde, von Lateinamerika über Afrika bis nach Südostasien, sollen zum ersten Mal eine Geschichte arzneimittelbedingter Behinderungen im Kontext reproduktiver Gesundheit aus der Perspektive von Patient:innen nachzeichnen. Diese wird die bisherige expertenzentrierte Darstellung ergänzen und ein umfassendes Rahmenwerk über die Art und Weise wie sich Patient:innen engagieren schaffen.

    Prof. Nemec beschäftigt sich schon lange Zeit intensiv mit der Rolle von Patient:innen und Aktivist:innen in der Aushandlung von Wissen und Praktiken in der neueren Geschichte von Schwangerschaft und Fortpflanzung. Eines ihrer derzeitigen Forschungsprojekte am Institut für Geschichte der Medizin und Ethik in der Medizin der Charité arbeitet die länderübergreifende Geschichte hormoneller Schwangerschaftstests gemeinsam mit Betroffenengruppen auf. Ein anderes Projekt studiert den Wandel von Risiko- und Präventionskonzepten im Zuge von Schwangerschaft und Reproduktion in Deutschland. Zusätzlicher Fokus ihrer Forschung: die materiellen und visuellen Kulturen der Wissenschaften, der Geschichte urbaner Räume und Gedächtnispolitik. Sie ist Mitglied der Jungen Akademie der Wissenschaften.

    Gene als Schlüssel zu neuen Therapien

    Die meisten Erkrankungen haben einen polygenen Hintergrund: Viele verschiedene Gene sind involviert und spielen – in bislang kaum verstandener Weise – zusammen. Schon kleinste Veränderungen in den relevanten Genen können das Krankheitsrisiko erhöhen. Genau hier will Dr. Maik Pietzner, Gruppenleiter in der AG Computational Medicine des BIH mit seinem neuen Vorhaben GenDrug ansetzen. Für eine Vielzahl häufiger, aber dennoch vernachlässigter Krankheiten fehlt es an wirksamen und sicheren Medikamenten. Einen Schlüssel zu neuen Therapien sieht er in den Genen, da die meisten Krankheiten auch einen genetischen Hintergrund haben.

    Mit einer ausgeklügelten Strategie, die künstliche Intelligenz (KI) zur Aufarbeitung riesiger Datenmengen nutzt, wollen der Biomathematiker und sein Team in großem Stil krankheitsrelevante Gene aufspüren und damit Ansatzpunkte für die Behandlung häufiger, aber wenig betrachteter Krankheiten liefern. „Unser Ziel ist, krankheitsspezifische kleine Veränderungen in den Genen und damit Zielstrukturen für innovative Medikamente zu finden. Dabei werden wir neue Wege beschreiten: Wir werden Erkenntnisse der Genomsequenzierung mit elektronischen Gesundheitsdaten verknüpfen und unter Verwendung künstlicher Intelligenz nach bislang unbekannten Zusammenhängen zwischen Genetik und Krankheitsmanifestation suchen – Zusammenhängen, die richtungsweisend bei der Entwicklung neuer Medikamente sein könnten“, wie Dr. Pietzner erklärt.

    Die Verfügbarkeit elektronischer Gesundheitsdaten eröffnet erstmals die Möglichkeit, anhand anonymisierter Daten von Millionen von Menschen Erkrankungen systematisch und ökonomisch zu erforschen. „Wir gehen davon aus, dass sich bei Sichtung der riesigen Datenpools genetische Signaturen herauskristallisieren, die für bestimmte Krankheiten typisch sind“, so der Wissenschaftler. „Unsere Computerprogramme sind in der Lage, in einer für uns ohne KI-Support nicht zu bewältigenden Datenfülle Muster zu erkennen und sichtbar zu machen. Methodisch ist das ein Quantensprung.“

    In den Genen sind Informationen für die Herstellung von Eiweißstoffen, den Proteinen, hinterlegt. Genau an diesen Genprodukten sind Dr. Pietzner und sein Team interessiert. Denn Proteine, die man bei bestimmten Erkrankungen gehäuft oder in ihrem Bauplan verändert findet, könnten Ansatzpunkte für eine innovative Therapie sein. Oder aber die neu gewonnenen Erkenntnisse über Risikogene und ihre Genprodukte untermauern bereits vorhandene Therapieansätze und bieten die Chance, diese weiterzuentwickeln – auch das wäre ein Zugewinn.

    Starting Grants des ERC
    Der Europäische Forschungsrat (European Research Council, ERC) unterstützt wissenschaftlichen Nachwuchs derzeit im Forschungsrahmenprogramm Horizon Europe. Gefördert werden herausragende Talente zwei bis sieben Jahre nach ihrer Promotion, die einen ungewöhnlichen Forschungsansatz zu einem frei gewählten Thema verfolgen. Für den Aufbau einer Arbeitsgruppe stehen jeweils rund 1,5 Millionen Euro bei einer Laufzeit von fünf Jahren zur Verfügung.


    Wissenschaftliche Ansprechpartner:

    Prof. Dr. Birgit Nemec
    Institut für Geschichte der Medizin und Ethik in der Medizin
    Campus Benjamin Franklin
    Charité – Universitätsmedizin Berlin
    t: +49 30 450 529 040

    Dr. Maik Pietzner
    AG Computational Medicine
    Berlin Institute of Health in der Charité
    Charité – Universitätsmedizin Berlin
    t: +49 30 450 543 132


    Weitere Informationen:

    https://medizingeschichte.charite.de/
    https://www.bihealth.org/de/forschung/arbeitsgruppe/computational-medicine
    https://www.charite.de/forschung/forschung_an_der_charite/forschungsprojekte_und...
    https://erc.europa.eu/news-events/news/erc-2023-starting-grants-results


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten, Wissenschaftler
    Biologie, Mathematik, Medizin
    überregional
    Forschungsprojekte, Wettbewerbe / Auszeichnungen
    Deutsch


     

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