Während Patientenverfügungen für Situationen körperlicher Beeinträchtigung gang und gäbe sind, sind sie für Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen umstritten. In vielen Ländern, so auch in Deutschland, gibt es die sogenannten Odysseus-Verfügungen bislang nicht. Forschende der Ruhr-Universität Bochum, des King’s College London, der Charité Berlin und der Vrije Universiteit Amsterdam haben im Rahmen des SALUS-Projekts Chancen und Risiken der Odysseus-Verfügungen untersucht und kommen zu dem Schluss, dass die Vorteile deutlich überwiegen.
Nach einer umfassenden Literaturanalyse zu Pro- und Contra-Argumenten befragte das Team Betroffene, Angehörige sowie medizinisches Personal zu Chancen und Risiken und entwickelte Empfehlungen für die Implementierung der Verfügungen. Die Ergebnisse sind in drei Publikationen in „The Lancet Psychiatry“, „European Psychiatry“ und „World Psychiatry“ veröffentlicht worden. Die neuste Veröffentlichung erschien am 12. September 2023.
Den Wunsch auf psychiatrische Behandlung für die Zukunft festlegen
Die Hürden für eine psychiatrische Zwangseinweisung oder -behandlung sind hoch, es muss die Gefahr eines erheblichen gesundheitlichen Schadens vorliegen. „Oft treten aber vorher schon soziale oder finanzielle Schäden auf, die die Patientinnen und Patienten im Nachhinein bereuen“, erklärt Matthé Scholten vom Bochumer Institut für Ethik und Geschichte der Medizin. Ein Beispiel: Menschen mit bipolarer Störung verhalten sich in der manischen Phase oft risikoreich und geben zum Beispiel viel Geld aus.
In einer Odysseus-Verfügung können Betroffene in einer Situation, in der sie einwilligungsfähig sind, festlegen, dass sie unter bestimmten Umständen eine Unterbringung in der Psychiatrie wünschen – beispielsweise wenn die Partnerin oder ein Freund ein zuvor definiertes Verhalten bemerken. In der Verfügung können Betroffene auch festhalten, welche Behandlungen sie wünschen und welche nicht.
Chancen und Risiken von Odysseus-Verfügungen
„Durch die Odysseus-Verfügung entstehen drei wesentliche Vorteile“, resümiert Matthé Scholten. „Sie geben den Betroffenen mehr Autonomie, können finanzielle und soziale Schäden verhindern und auch die therapeutische Beziehung und die Beziehung zu Angehörigen verbessern. Insgesamt geben Odysseus-Verfügungen Betroffenen Kontrolle über ihr Leben und ihre Behandlung.“
Ein häufig genanntes Risiko hingegen ist die Gefahr einer Einflussnahme durch Angehörige oder Ärzte beim Erstellen der Verfügung. Während eine Ärztin eine medikamentöse Behandlung für die beste Therapie halten könnte, könnte eine Betroffene sie aufgrund von starken Nebenwirkungen ablehnen. „Die Verfügung darf am Ende aber nur den Willen der Betroffenen widerspiegeln. Wir schlagen daher vor, dass sie in Anwesenheit einer neutralen Partei aufgesetzt wird“, skizziert Scholten eine mögliche Lösung.
Hürden bestehen auch bei der praktischen Umsetzung, beispielsweise könnte es passieren, dass im Fall einer psychiatrischen Krise die Verfügung nicht auffindbar ist und die Behandlung somit nicht nach den Wüschen des Betroffenen erfolgt. Die Forschenden empfehlen daher eine datenschutzkonforme digitale Infrastruktur zu nutzen.
Drei Länder im Vergleich
In einer ihrer Studien befragten sie Stakeholder in Deutschland, den Niederlanden und England zu Odysseus-Verfügungen. In diesen drei Staaten sind die psychiatrischen Verfügungen bislang nur in den Niederlanden im Einsatz. In Deutschland müsste dafür erst der rechtliche Rahmen geschaffen werden.
Das Ergebnis überraschte die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler: „Obwohl die Gesundheitssysteme der drei Länder sehr unterschiedlich sind, gab es große Überlappungen in den Ergebnissen“, sagt Scholten. „Die Vorteile überwiegen laut den Befragten die Nachteile.“
Ausreichende Ressourcen entscheidend
Entscheidend sei, dass man ausreichend Ressourcen für die Arbeit mit Odysseus-Verfügungen bereithalte. Nicht nur das Aufsetzen des Dokuments müsse sorgfältig erfolgen. „Nach einer Behandlung sollten sich Betroffener, Angehöriger und Arzt zusammensetzen und bewerten, ob die Therapie so gelaufen ist, wie der Patient es sich gewünscht hatte“, erklärt Matthé Scholten. „Falls nicht, sollte eine zukünftige Behandlung anders erfolgen oder, wenn Betroffene sich das wünschen, die Vorausverfügung entsprechend geändert werden.“
Die Forschenden gehen davon aus, dass sich die so investiere Zeit lohnt. „Wenn man die Patienten zu Beginn einer Krise einweist, ist es wahrscheinlich, dass sie kürzer in der Klinik bleiben, als wenn man wartet, bis es eine große Krise gibt“, so der Bochumer Wissenschaftler.
Förderung
Die Arbeiten wurden unterstützt vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (01GP1792) und vom Wellcome Trust (203376).
Dr. Matthé Scholten
Institut für Ethik und Geschichte der Medizin
Ruhr-Universität Bochum
Tel.: +49 234 32 28628
E-Mail: matthe.scholten@ruhr-uni-bochum.de
Lucy Stephenson, Astrid Gieselmann, Tania Gergel, Gareth Owen, Jakov Gather, Matthé Scholten: Self-binding directives in psychiatric practice: a systematic review of reasons, in: The Lancet Psychiatry, 2023, DOI: 10.1016/S2215-0366(23)00221-3
Matthé Scholten et al.: Implementation of self- binding directives: recommendations based on expert consensus and input by stakeholders in three European countries, in: World Psychiatry, 2023, DOI: 10.1002/wps.21095
Matthé Scholten et al.: Opportunities and challenges of self-binding directives: A comparison of empirical research with stakeholders in three European countries, in European Psychiatry, 2023, DOI: 10.1192/j.eurpsy.2023.2421
Merkmale dieser Pressemitteilung:
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Medizin, Philosophie / Ethik
überregional
Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
Deutsch
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